Wie lange soll das Töten in der Ukraine noch weitergehen? Jetzt ist die Zeit, für Verhandlungen und für Abrüstung einzutreten. Dabei hilft die Lehre vom gerechten Krieg.
Ein Theologe gibt Geld für »Waffen für El Salvador«. Die Berliner Tageszeitung »taz«, die die Spendenkampagne zugunsten der Salvadorianischen Guerilla Ende 1980 ins Leben gerufen hatte, veröffentlichte auch den Namen eines prominenten Spenders: Helmut Gollwitzer, damals ein bekannter linker Theologe in Berlin. »Die Welt« höhnte: Der vermeintliche Friedensfreund Gollwitzer habe sich als Gewaltfreund entlarvt, er habe wohl nichts gegen Waffen generell, sondern nur gegen Nato-Waffen. In der Tat trat Gollwitzer in diesen Jahren immer wieder als Mahner gegen die Atomrüstung auf und beteiligte sich später auch an Blockaden von US-Waffenlagern.
Was heute selbstverständlich ist – dass Theologen Waffenlieferungen befürworten, freilich solche aus Nato-Ländern –, irritierte damals viele Freunde Gollwitzers aus der Friedensbewegung. Darum erklärte er sich: Es könne durchaus strittig sein, schrieb er, wie ein Regime zu beurteilen sei und, wenn sein Unrechtscharakter offensichtlich sei, wie man es überwinden könne, ob mit friedlichen Mitteln oder ob man zum »letzten Mittel« greifen müsse: zum bewaffneten Aufstand. »Um diese Entscheidung kommt niemand herum, weder die unmittelbar Betroffenen im betreffenden Land, noch diejenigen, die aus der Ferne über die Leiden eines Volkes informiert sind und helfen wollen.«
Das Ziel muss der Frieden sein
Nicht nur die Betroffenen, auch die Unterstützer müssen ihr Tun ethisch rechtfertigen. Gollwitzer tat dies wiederholt mit der alten Lehre vom gerechten Krieg, die auf Augustinus, Thomas von Aquin und Theologen der spanischen Spätscholastik zurückgeht und fragte sich, ob es nicht auch eine »gerechte Rebellion« geben könne. Heute reden Theologinnen und Theologen lieber vom »gerechten Frieden« als vom »gerechten Krieg«. Aber letztlich nutzen auch sie die vor Jahrhunderten entwickelten Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg. Denn das Problem der Lehre vom gerechten Krieg lag, wie Gollwitzer pointiert feststellte, vor allem in ihrer Nicht-Anwendung beziehungsweise in der missbräuchlichen Verwendung: »Sie diente faktisch zur Rechtfertigung jedweder Beteiligung am Kriegswesen statt zur kritischen Befragung dieser Beteiligung«, wofür sie eigentlich gedacht war.
Mit leichten Variationen werden folgende Kriterien für eine gerechtfertigte Beteiligung am Krieg genannt:
- Nur eine rechtmäßige Autorität ist aus gerechtem Grund zum Kriegführen berechtigt.
– Absicht und Ziel müssen die Wiederherstellung des Friedens sein.
– Alle anderen Mittel, einen Aggressor zu bekämpfen, müssen wirkungslos sein, sodass ein Krieg wirklich das letzte mögliche Mittel, die sogenannte ultima ratio ist.
- Es muss Aussicht auf Erfolg bestehen.
- Der Krieg darf nicht mehr Schäden verursachen, als er verhindern kann: Die militärischen Mittel und der angerichtete Schaden müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen zum erreichbaren Ziel.
Für Gollwitzer konnte damit der Aufstand in El Salvador gerechtfertigt werden, aber niemals eine Beteiligung an einem atomaren Krieg, weil Massenvernichtungswaffen keine Abwägungen mehr hinsichtlich einer angemessenen Kriegsführung zulassen, sondern nur noch »wahllosen Massenmord«. Und weil sie nur die Vernichtung des Gegners zum Ziel haben können, nicht aber den Frieden. Wie aber wäre heute im Fall des Angriffs Russlands auf die Ukraine anhand dieser Kriterien zu urteilen? Wo ja alle Welt hofft, dass eben kein Krieg mit Atomwaffen geführt wird, sondern diese nur in der Kulisse stehen – wobei natürlich keiner garantieren kann, dass sie dort für immer stehen bleiben.
Die strategischen Interessen der USA
Dass der Angriff Russlands nicht zu rechtfertigen ist, steht außer Frage. Auch dass die ukrainische Regierung einen gerechten Grund zur Verteidigung hat und die Wiedereroberung aller Gebiete anstrebt, die völkerrechtlich zu ihrem Land gehören, und die Bestrafung des Aggressors, ist schnell anhand der ersten beiden Kriterien nachvollziehbar. Kniffliger wird es bei der Frage, welches Ziel die Staaten verfolgen, die die Ukraine mit hohen Summen militärisch und finanziell unterstützen, im Wesentlichen die Nato-Staaten, an deren Spitze die USA. Eigene Interessen werden womöglich hinter Formulierungen versteckt, wonach man die Ukraine unterstütze »so lange, wie es nötig ist«.
Mitglieder der amerikanischen Regierung haben wiederholt gesagt, dass die militärische »Schwächung Russlands« ein Ziel der beispiellosen Unterstützung sei, damit Russland nicht mehr seine Nachbarn bedrohen könne. Schließlich habe es die regelbasierte internationale Ordnung angegriffen. Dies wäre für sich genommen durchaus mit dem Kriterium vereinbar, dass am Ende des Konfliktes ein stabiler Friede stehen müsse. Doch überzeugt die Argumentation mit der »regelbasierten internationalen Ordnung« deswegen nicht wirklich, weil die amerikanischen Regierungen der letzten Jahrzehnte nicht bereit waren, ihr Land in so eine Ordnung konsequent einbinden zu lassen. So stellt sich durchaus die Frage, ob nicht wegen eines strategischen Interesses – Russland als konkurrierende Weltmacht zu schwächen – und nicht nur um des sicheren Friedens willen ein Krieg durch massive militärische Unterstützung in die Länge gezogen wird: Der Westen liefert immer neue Panzer und Raketen, Russland mobilisiert immer mehr Soldaten. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Russland wird nicht kapitulieren
Das vielleicht nachvollziehbarste Ziel der sich steigernden westlichen Waffenhilfe für die Ukraine liegt wohl darin, der Ukraine bei der bevorstehenden Offensive zur Rückeroberung der östlichen Landesteile zu helfen, um ihr dadurch eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen. Denn dass dieser Krieg am Ende mit einer Verhandlungslösung und kaum mit einer bedingungslosen Kapitulation der Atommacht Russland endet, ist wohl allen Beteiligten klar. Auch wenn man sich aus guten Gründen der Gerechtigkeit etwas anderes wünschen kann, so hat auch die Lehre vom gerechten Krieg mit dem Kriterium »Aussicht auf Erfolg« die Realpolitik um des Friedens willen eingepreist. Wenn aber Verhandlungen am Ende stehen werden, dann lautet die vom Kriterium der Verhältnismäßigkeit her aufgegebene Frage: Wie viele Tote ist eine bessere Verhandlungsposition wert?
Diese Frage aufzuschreiben macht den Zynismus des Krieges deutlich, in dem Schätzungen zufolge bereits bis zu 60 000 Soldaten und 8000 Zivilisten getötet worden sind, dazu eine ungleich höhere Zahl an Verwundeten. Genaue Zahlen halten beide Kriegsparteien wohlweislich geheim. Man kann aber getötete Menschenleben nicht derart verrechnen, wenn der Mensch ein Zweck an sich ist und niemals bloß zum Mittel gemacht werden darf, wie es Immanuel Kant gelehrt hat. Aus der Frage kann man also nur ableiten, dass ein früherer Friedensschluss einem späteren vorzuziehen ist. Dies umso mehr, als dass das Kalkül der »besseren Verhandlungsposition« auf unsicherem Grund steht: Es erhofft von Putin ein Einlenken, wenn es für ihn militärisch schlechter steht, und von Selenskyj eines, wenn es für ihn militärisch besser steht. Dass der eine durch Erfolg und der andere gleichzeitig durch Misserfolg an den Verhandlungstisch gebracht werden kann, riecht nach Wunschdenken. Wahrscheinlicher ist, dass beide Kriegsparteien bei Verhandlungen für sich mehr erreichen wollen, als sie bei den gescheiterten Verhandlungen vom letzten Frühjahr zuzugeben bereit waren – schließlich hat man ja seitdem mehr in den Krieg investiert; also Menschenleben und Material geopfert; das soll nicht umsonst gewesen sein. Das heißt: Fortgesetzte Waffenlieferungen können eine Verhandlungslösung deutlich erschweren.
Verliert die Ukraine den Rückhalt?
So ungerecht die Annexion der Ostukraine durch Russland auch ist, so muss man zusätzlich noch eines bedenken, wenn man die Rückeroberung dieser Gebiete mit Waffenlieferungen unterstützt: Das lange umkämpfte Bachmut ist fast völlig zerstört; von den ursprünglich 70 000 Einwohnern sollen im Februar 2023 noch knapp 6000 dort gelebt haben. Will die ukrainische Armee nun ihrerseits im eigenen Land zerstörte und entvölkerte Städte schaffen? Wie will man die Menschen im Osten für die eigene Nation gewinnen, wenn man ihnen zuvor die Häuser bombardiert hat? Es gibt in der Ostukraine gemischte nationale Loyalitäten. Besteht nicht die Gefahr, dass man durch eine womöglich verlustreiche Rückeroberung der Städte die Herzen der Menschen verliert – einfach, weil sie in Frieden leben wollen?
Dies alles spräche für Verhandlungen lieber jetzt als später. Die anvisierten Ergebnisse der Istanbul-Gespräche im letzten Frühjahr – neutraler Status der Ukraine, keine ausländische Militärpräsenz ebendort, aber Sicherheitsgarantien großer Mächte, dafür Rückzug der russischen Truppen und langjährige Verhandlungen über den Status der Krim – haben deutlich gemacht, dass es Russland auch, wenn nicht vor allem, um sicherheitspolitische Fragen geht. Hier ist und wäre schon längst ein Fenster der Gelegenheit gewesen, dass die Nato mit Russland in Verhandlungen über Sicherheitsfragen eintritt und damit den Druck von der Ukraine nimmt.
Das wäre auch im eigenen Interesse des Westens: Im Verlauf des Ukrainekrieges erodierten die letzten Reste der nach dem Kalten Krieg etablierten Sicherheitsarchitektur: Russland hat die Voraussetzungen geschaffen, eigene Atomwaffen nach Belarus zu verlegen, näher an die Nato-Grenze, die Nato steigert ihrerseits ihre Militärpräsenz in den Nachbarländern Russlands, dessen Parlament hat wiederum kürzlich beschlossen aus dem Vertrag auszusteigen, der die Abrüstung konventioneller Waffen in Europa reguliert. Waffenstarrende Grenzen in Europa sind ein Rückfall in die Zeit des Kalten Krieges und machen Europa nicht sicherer.
Im Krieg über Abrüstung reden
Schon vor einem Jahr hat das Gutachten der Friedensforschungsinstitute konkrete Schritte zur Entspannung zwischen Nato und Russland vorgeschlagen: Die Nato sollte den Ersteinsatz von Atomwaffen in ihrer Militärdoktrin klar ausschließen, also eine Atomwaffennutzung als Antwort auf einen konventionellen Konflikt. Dem entsprechen würde ein Abzug der amerikanischen Waffen von deutschem Boden, den man verknüpfen könne mit einem Verzicht Russlands auf Stationierung von Atomwaffen in Belarus. Damit würden Gefahren für Europa reduziert, »ohne das bestehende Abschreckungsdispositiv der USA, Frankreichs und Großbritanniens zu beeinträchtigen«, so die Friedensforscher vor einem Jahr als sich die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus schon abzeichnete. Und natürlich muss man auch irgendwann über beidseitige Rüstungsbegrenzungen an der Grenze zwischen Nato und Russland reden. Stattdessen hat die Nato bisher auf eine Demonstration der Stärke gesetzt und damit eine Eskalation der Drohgebärden am Laufen gehalten, die irgendwann außer Kontrolle geraten kann. Darum wären Verhandlungen jetzt wichtig zwischen der Nato und Russland. Solche Gespräche über Abrüstung könnte man mit Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland verbinden, sodass Zugeständnisse der Nato mit Zugeständnissen Russlands gegenüber der Ukraine erkauft würden. Wäre das nicht eine wirksamere Hilfe für die leidenden Menschen in der Ukraine als allein immer weiter reichende Waffen zu liefern? Die Unterstützer der Ukraine müssten sich nach dem Kriterium der ultima ratio, also dass Krieg nur das »letzte Mittel« sein darf, die Frage stellen oder stellen lassen, ob sie ihre friedlichen Mittel wirklich schon alle ausgeschöpft haben?
Ein Atomkrieg wäre die »ultima irratio«
Wenn die Kirchen sich also auf ihre eigenen Traditionen besinnen, könnten sie in den brisanten Fragen der Gegenwart doch mehr sagen, als nur die alten, vermeintlich überholten Positionen zu räumen. Zumal sich die Gegenwart mit erschreckendem Tempo einer überwunden geglaubten Vergangenheit annähert. Das Plädoyer für konsequente Abrüstung ist gerade in der evangelischen Kirche breit verankert gewesen, nicht zuletzt auf Kirchentagen immer wieder bekräftigt. Warum tut man sich jetzt so schwer, an die Erfolge der Entspannungspolitik der 1980er-Jahre zu erinnern und die Menschen gegen das zu mobilisieren, was Gollwitzer die ultima irratio genannt hat: die letzte Unvernunft des Menschen, die ein Krieg zwischen Atommächten wäre. Die Gefahr eines solchen Krieges ist heute größer als in den 1980er-Jahren.
Am 12. Juni veröffentlichen die führenden Friedensforschungsinstitute ihr jährliches Gutachten.
Publik-Forum vom 09. 06. 2023