Eine Rezension.
Silvia Ferrara liebt es zu erzählen: Manchmal elegant und witzig, manchmal etwas verrätselt berichtet sie von ihren Reisen in die Höhlen mit den ältesten Malereien der Menschheit oder zu den in Stein geritzten Bildern und Zeichen unter freiem Himmel, sogenannte Petroglyphen. Die bestaunten Werke umfassen einen Zeitraum von etwa 60.000 bis 6.000 Jahre vor unserer Gegenwart. Meistens sieht man Tiere, manchmal Menschen, aber auch Zeichen und geometrische Formen und immer wieder über die ganze Welt verteilt: Handabdrücke: Sei es, dass die Hand mit Farbe bemalt an die Wand gestempelt wurde oder als Schablone für einen bunten Umriss diente.
Hüten wir uns beim Betrachten dieser Formen vor dem groben Fehler, sie für etwas Schlichtes zu halten. Der Glaube, geometrische Formen seien elementarer, primitiver oder einfacher, täuscht. Gerade wegen ihrer Geometrie sind diese Petroglyphen komplexe kulturelle Objekte, die uns etwas lehren, obwohl wir nicht die blasseste Ahnung haben, was sie bedeuten. Diese Zeichen lehren uns, dass wir die Brille der Werturteile absetzen und diese Symbole ohne die vorgefasste Idee eines «Zuerst» und eines «Danach» betrachten müssen […]. In unserer kulturellen Entwicklung gibt es keinen Determinismus und keine lineare Progression. (123f.)
Immer wieder hätten nämlich neue Funde die etablierte Ordnung einer linearen Entwicklung durcheinandergebracht – wenn man sie mit Hilfe der Radiokarbonmethode relativ exakt datieren konnte. Das Bedürfnis eine Entwicklungslinie von primitiven zu komplexen Bildern und Artefakten zu rekonstruieren, entspringe einem Bedürfnis der Forschenden, ihre eigene Gegenwart als den Höhepunkt der bisherigen Entwicklung zu begreifen, so Ferrara. Eine Vorstellung, die sie am Schluss des Buches energisch bricht: Ein Atomendlager soll den Müll 100.000 Jahre verwahren und man muss schon jetzt Sorge dafür tragen, dass in diese Höhlen niemals neugierige Forscher kommender Generationen eindringen, um die Hinterlassenschaft einer früheren Kultur zu bestaunen.
Aber zurück zu den Anfängen: Auf halbem Reiseweg mit Ferrara kann man ermüden, wenn man immer wieder gesagt bekommt: Wir können die Zeichen nicht verstehen. Man wünscht sich doch eine schöne Erzählung, eine stimmige Theorie um all die Bilder herum. Die Reiseleiterin aber verweigert sie – um dann doch im letzten Viertel des Buches eine starke These zu platzieren: Auch wenn wir nicht verstehen, was die Bilder und Zeichen uns sagen wollen, so ist das besondere, dass sie etwas sagen wollen. Die Bilder seien nicht zuerst als Kunst zu verstehen, sondern als Kommunikation. Und Ferrara macht klar, dass das nicht wenig ist, sondern der titelgebende Sprung in der Entwicklung des Menschen: Auch Tiere redeen, aber nur Menschen verständigen sich über Abwesendes, denn das sind die an die Höhlenwand gemalten Tiere.
Darin liegt unser Alleinstellungsmerkmal [als Menschen]: in der Fähigkeit, uns untereinander über Dinge auszutauschen, die außerhalb der Jetztzeit liegen und nur in der Kommunikation präsent sind. Wir brechen aus dem Gehege des Augenblicks aus und springen in Bereiche, die fernab der Gegenwart und unseres jetzigen Aufenthaltsortes liegen. […] Die sogenannte displaced reference ist die außerordentliche Fähigkeit, sich an vergangene Ereignisse zu erinnern und sich zukünftige vorzustellen. Und sie vor allem in und außerhalb von uns zu kommunizieren, sie aus der Sphäre des rein Gedanklichen nach außen zu tragen. (179f.)
Der Mensch ist das Geschichten erzählende Tier. Wir lernen bei Ferrara also weniger etwas über die Menschen vor zehntausenden Jahren als etwas über die Menschen zu allen Zeiten: Menschen erinnern und reden über Vergangenes, um sich Gegenwart und Zukunft zu erschließen. Dieses Unterscheidungsmerkmal vom Tier entdecken wir gerade an Tierzeichnungen – und Handabdrücken. Ferrara verweist darauf, dass es einen engen Zusammenhang von Sprache und Hand im Gehirn des Menschen gibt – wie man es aus der Entwicklung des Sprachelernens von Kindern weiß: Ein Elternteil zeigt mit der Hand auf den Ball, den es „Ball“ nennt. So sei es auch am Anfang der Menschheit gewesen:
[Die Geschichte] beginnt mit dem Moment, in dem jemand mit einem Finger auf etwas gezeigt, seine Hand auf eine Oberfläche gedrückt oder eine Handlung mit einer Gebärde angedeutet hat. Als jemand einen Namen geäußert und einer anderen Person beigebracht hat, dass diese Lautfolge für jenes Ding steht. Und als diese Person diese Entsprechung dann übernommen und weitergegeben hat, worauf sie repliziert, geklont und über den Kreis hinaus weiterverbreitet wurde. (208)
Auch wenn Ferrara manche Lesenden enttäuscht, die vielleicht prallere Erzählungen aus der Frühzeit des Menschen erwartet haben. Ihr geht es weniger um das Dekonstruieren von Theorien über die frühen Menschen, als das offene Staunen über die rätselhaften Bilder, die sie nicht zu schnell in eine Schublade gesteckt wissen will. Genau deswegen hätte man diesem anregenden Essay mehr Fotos gewünscht: Die 28 Farbtafeln in der Mitte des Buches decken bei weitem nicht alle besprochenen Darstellungen ab. Mehr davon und größere Bilder hätten es den Leserinnen und Lesern erleichtert, mitzuraten, was sie bedeuten mögen. Denn auch wenn es unsicher ist, was die Bilder der Vergangenheit bedeuten: Dass wir sie immer wieder befragen, um unsere Gegenwart und Zukunft zu erhellen, ist für Ferrara zutiefst menschlich.
Silvia Ferrara, Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit, C.H. Beck, München 2023, 224 Seiten, 26 €.
WDR 3 / Gutenbergs Welt am 25.03.2023