Das ist eine törichte Frage angesichts einer privaten Bücherwand. Wer so fragt, hat das
Wesen einer Bibliothek nicht verstanden.
Zum Leidwesen meiner Mitmenschen lebe ich manchmal in anderen Welten. »Papa, wo bist du gerade?« Meine Gedanken hängen in Texten, die ich gelesen habe, oder an Bildern, die aus diesen Texten entstanden sind. Die Welten stoßen sich dann aneinander, auch wenn sie beide nur für mich erlebbar sind. Für die anderen sind diese anderen Welten allenfalls sichtbar in den Büchern im Regal, die sich zu einer Bibliothek vereinen.
»Haben Sie die alle gelesen?« Das ist eine törichte Frage angesichts einer privaten Bücherwand. Wer so fragt, hat das Wesen einer Bibliothek nicht verstanden. Bücher zu kaufen, die man nicht sofort liest, ist keine sinnlose Sammelleidenschaft, sondern der Aufbau einer Bibliothek, die sich ja gerade dadurch auszeichnet, mehr Bücher zu enthalten, als man gelesen hat. Stellte man sich nur die Bücher in die heimische Schrankwand, die man schon gelesen hat, handelte man wie der Jäger, der die Geweihe geschossener Hirsche ausstellt. Schaut, die habe ich alle erlegt. Das wäre eine traurige Bibliothek. Welch ein Glück ist es dagegen, ein Buch aus dem Regal zu ziehen, das man vor Jahren mal gekauft hat, nichts damit anzufangen wusste, das im Regal Staub angesammelt hat, aber dessen Zeit jetzt gekommen ist – und das jetzt zur Hand ist, weil es jahrelang geduldig gewartet hat.
Eine Bibliothek ist eine Sammlung von Büchern, die es wert sind, gelesen zu werden. Es gibt zwar auch Fachbibliotheken, die aus einem Fachgebiet (fast) alles sammeln und Vollständigkeit anstreben, aber die meisten Bibliotheken sind eine wie auch immer begründete Auswahl von Büchern und vermitteln so Anspruch und Zuspruch zugleich. Der Anspruch einer Bibliothek gründet darin, dass sie aufzeigt, was noch alles wert wäre, gelesen zu werden: also ein Ziel, das in den meisten Fällen nicht erreicht werden kann. Genau darin liegt aber auch der Zuspruch oder die Geborgenheit, die eine Bibliothek vermittelt: Es ist genug zum Lesen da, es wird für dein Leben reichen, wenn du an diesen Ort immer wieder zurückkehren kannst.
Zu welcher Welt will ich gehören?
Dabei ist der Unterschied zwischen Bibliotheken als öffentlichen Leseorten und denen in privaten Räumen eigentlich weniger kategorial als vielmehr quantitativ: Privatbibliotheken sind meist kleiner im Umfang, aber das ändert nichts an ihrem Zuspruch und Anspruch, wenn sie mehr Bücher umfassen als die gelesenen. Mithilfe von Bibliotheken werden nicht nur ferne Welten bereist, sondern eigene Welten geschaffen: Aus den vielen Welten der Bücher schafft sich der einzelne Lesende seine eigene Welt und sogar sich selbst, denn mithilfe von Büchern werden
Identitäten aufgebaut und gestärkt.
Die Jugendbibliothek in meiner Heimatstadt war in einem alten Fachwerkhaus untergebracht: Wie in eine Kirche trat man von draußen in ein kühles Dunkel mit nur kleinen Fenstern. Meine Mutter, die mich einem Initiationsritus gleich in diese Höhle führte, war klug genug, meine Bücherauswahl nicht zu lenken oder nur zu kommentieren. So konnte ich das Vergnügen spüren, eine eigene Welt zu entdecken, die zum Beispiel mit dem buttermilchtrinkenden Detektiv Balduin Pfiff ein schönes Identifikationsangebot für einen kleinen Jungen bereithielt. Man ahnt, dass ich kein Meisterdetektiv wurde, aber in den Bibliotheken, die ich während meines Studiums aufsuchte, stellte sich die Frage nach der eigenen Verortung deutlicher: Zu welcher der dort angebotenen Welten will ich dazugehören? In welche Tradition will ich eintreten, auch wenn
mir diese gerade nicht von meiner Herkunft mitgegeben ist?
In der eher unprätentiösen Bibliothek der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal im Tiefparterre des Studentenwohnheims entdeckte ich die Werkausgabe von Helmut Gollwitzer. Seine theologischen und politischen Texte faszinierten mich, auch weil sich in ihnen ein guter Teil der politischen Geschichte der jungen Bundesrepublik spiegelte. Ich entdeckte: Durch Lesen kann ich mir eine neue Vergangenheit schaffen, indem ich von Denkern oder Praktikern lese, die ich persönlich gar nicht kennen muss. Gollwitzer habe ich nie kennengelernt; er starb als ich in das dritte Semester kam. Dadurch, dass ich von Menschen lese und mich durch ihre Gedanken anregen lasse, ihnen also in gewissem Sinne folge, werden sie zu einem wichtigen Teil meiner eigenen Tradition und Vergangenheit. Durch sie komme ich in die Gemeinschaft der anderen,
die ihnen ebenfalls folgen und sich an ihnen abarbeiten.
Die Lesewelt stößt sich damit nicht nur schroff an der sogenannten wirklichen Welt in der mentalen Abwesenheit der Lesenden, sie schafft auch neue Verbindungen in der Welt der Lesenden. Gollwitzer-Fans sind ein kleiner Kreis, aber wir fühlen uns fast wie zu Hause, wenn wir einen anderen von uns treffen, denn wir haben einer Familie gleich eine gemeinsame Vergangenheit. Natürlich erschließt das Lesen auch die Welt jenseits der Bücher und lässt dort vieles klarer und deutlicher erkennen. Nicht nur, dass man etwas über andere Welten erfährt und damit über das Vorhandene hinaus, Sinn und Geschmack für das Mögliche kultiviert. Das Lesen hat auch eine große Nähe zur Meditation. Wenn man aus einer Konzentration auf etwas Unsichtbares zurückkehrt, dann nimmt man das Vorhandene genauer wahr. Es ist, wie wenn man aus einer dunklen Kirche heraustritt und die Sonne erst mal blendet: Sie scheint stärker zu leuchten als zuvor. So geht es dem, der aus einer Lektüre auftaucht.
Deswegen sind auch die Bauten von Bibliotheken wichtig: Die dunklen Höhlen und Kellergeschosse eignen sich viel besser für die Konzentration auf die Welt der Bücher als moderne gläserne und lichtdurchflutete Räume. Die beiden theologischen Fakultäten der Universität Tübingen, zum Beispiel, hatten für ihre gemeinsame Bibliothek einen Rundbau
mit Glasfronten an den Seiten: ein Zylinder zum Raus- und Reingucken; der Konzentration nicht förderlich, sondern die müden Studierenden fortwährend zum Abschweifen einladend. Ich kann mich an kaum eine wirklich fesselnde Lektüre dort erinnern. Überraschende Entdeckungen macht man im Halbdunkeln, in dem, was den oberflächlichen Blicken entzogen ist.
Gelungener ist der moderne Bau der Dombibliothek in Köln: Eine hohe Halle mit modernen Betonsäulen, die den Geist schweifen lässt, aber kaum aus dem Fenster hinaus, sondern an den Bücherwänden entlang. Auf der hohen Galerie gibt es zudem kleine Leseecken, die zum heimlichen Entdecken einladen – verborgen vor dem Herrn dieser Bücher, dem Erzbischof von Köln. Mit seinem Geld werden Bücher gekauft, die seinen Dogmatismus ständig unterlaufen. Zu vielfältig sind die Welten selbst von Büchern einer theologischen Fachbibliothek, als dass man sie auf einen kleinen kirchlichen Nenner bringen könnte.
Ich zähle meine Bücher nicht
Die Unberechenbarkeit von Büchern kommt auch darin zum Ausdruck, dass man das, wofür sie stehen, nicht zählen kann. Als ich Bretter für meine Bücher erwarb, also dem Wortsinn nach eine Bibliothek erschuf – denn nichts anderes bedeutet das dem deutschen zugrundliegende griechische Wort: ein Regal für Bücher(rollen) –, da überraschte mich der Regalverkäufer mit der Aussage, er habe zu Hause soundso viele Bücher stehen. Ich hingegen konnte nicht Paroli bieten,
weil ich schlicht nicht wusste, wie viele Bücher ich habe, weil ich sie wirklich nicht gezählt hatte und bis heute nicht gezählt habe. Ich zähle andere Dinge, das gebe ich freimütig zu, zum Beispiel regelmäßig die Flaschen im Weinregal, aber es kam mir nie in den Sinn, meine Bücher zu zählen. Und ich glaube inzwischen auch, dass das Zählen von Büchern diese den schon erwähnten Hirschgeweihen des Jägers gleichmachen und den Sinn und Zweck einer Bibliothek verfehlen würde. Für eine öffentliche Bibliothek mag die Zahl der Bände einen gewissen Wert haben, um Platzbedarf oder Personalaufwand zu kalkulieren – aber was sollte man in einer privaten Bibliothek zählen? Die Anzahl der Bücher gibt nicht deren Wert und vor allem nicht die darin enthaltenen Welten an.
Wie viele Welten enthält ein Roman, wie viele ein Sammelband und wie viele das Weltenwunder eines Gedichtbandes? Jedes Gedicht eine eigene Welt – das könnte man sagen und statt der Bücher die in ihnen enthaltenen Aufsätze, Geschichten oder Gedichte zählen. Aber das würde eine absurde Zahl ergeben, denn entscheidend ist, welche Welten ich in meine Lesewelt einfüge, welchen Reichtum die Lesenden aus den Büchern beziehen. Und das ist nicht zählbar, sondern
ein Wunder – jedes Mal.
Publik-Forum vom 22.10.2021