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Knausrig und geheim

Schlechter als die Katholische Kirche: Bei den »Anerkennungszahlungen« an Betroffene sexualisierter Gewalt halten evangelische Kirchen vieles im Dunkeln.

Sonja Behrends (Name geändert) ist erbost: »Die lassen mich das alles noch mal durchleben, um mir dann eine Absage zu geben.« Behrends hat im Mai letzten Jahres einen Antrag auf Anerkennungsleistungen für Betroffene sexualisierter Gewalt gestellt bei der Kommission, die die evangelischen Landeskirchen von Rheinland, Westfalen und Lippe gemeinsam mit der dortigen Diakonie eingerichtet haben. Behrends hatte als 14-Jährige von ihrem Gemeindepfarrer sexualisierte Gewalt erlitten. Doch der Antrag wurde abgelehnt. Ihr wurde zum Verhängnis, dass der Pfarrer damals als Teil einer gerichtlichen Geldbuße 10 000 DM Schmerzensgeld an ihre Eltern zahlen musste. Für die Kommission hatte sie damit schon Geld in Höhe der Pauschalleistungen von 5000 Euro bekommen. Mehr sollte es nicht geben.

Dabei wollten die drei Kirchen in Nordrhein-Westfalen bei den Anerkennungsleistungen großzügiger sein als bisher. Seit dem 1. Januar 2021 gilt ein neues Verfahren für Anerkennungszahlungen: Im Konsens mit der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland sollen individuelle Leistungen gezahlt werden, »die sich an Schmerzensgeldtabellen orientieren« und die die alten Pauschalen ablösen. Auch diejenigen, die zuvor schon die 5000 Euro erhalten hatten, sollten neuerliche Anträge stellen können.

Behrends hatte nicht klein beigegeben, sondern Widerspruch eingelegt und daraufhin immerhin erstmals 5000 Euro erhalten. Aus dem Bewilligungsbescheid geht freilich nicht hervor, warum sie aufgrund welcher Angaben nun doch Leistungen bekommen hat. Bei der »1. Community – Ehemalige Heimkinder NRW« kennen sie die Bescheide der sogenannten »Unabhängigen Kommission«: 5000 Euro – ohne Begründung bekam auch Klaus Peters (Name geändert) im neuen Verfahren. Er hat seine Kindheit und Jugend in einem evangelischen Heim verbracht. »Keiner weiß, wie sie es bewerten«, meint er. Und Uwe Werner, Vorsitzender der Heimkinder-Community, schimpft: Solange der Fokus auf den katholischen Bischöfen Woelki und Marx liege, glaube die evangelische Kirche, aus dem Schneider zu sein.

Die Pressestelle der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe antwortet auf Anfrage, dass im vergangenen Jahr »rund 200 Anträge« gestellt worden seien, von denen 90 Anträge bis Mitte März bearbeitet worden seien. Dabei seien Summen zwischen 5000 und 40 000 Euro gezahlt worden, im Schnitt 11 187,50 Euro. Leistungen von anderer Seite als der Kirche würden nicht angerechnet bei den Anerkennungssummen, versichert die Diakonie. Der Fall von Sonja Behrends legt nahe, dass dies zumindest nicht von Anfang an klar war. Außerdem fragt das Antragsformular detailliert nach, von welchen Stellen man noch Unterstützungs- oder Entschädigungszahlungen erhalten habe. Die Mitglieder der Kommission sind nicht bekannt; es wird lediglich versichert, dass es »ehrenamtliche Mitglieder« seien, die nicht im Dienste der Kirche stünden. Auf Rückfrage räumt die Diakonie aber ein, dass zwei Kommissionsmitglieder ehemalige Kirchenmitarbeiter seien. Geheim bleiben auch die Kriterien der Kommission: Sie habe aus verschiedenen Schmerzensgeldtabellen »eine eigene Tabelle entwickelt«. Dass den Betroffenen die zuerkannten Summen nicht schriftlich aufgeschlüsselt würden, habe die Kommission so entschieden. Die beteiligten Kirchen und die Diakonie könnten der Unabhängigen Kommission keine Vorgaben machen, erklärt die Pressestelle der Diakonie.

»Wollen die uns für dumm verkaufen?«, fragt Uwe Werner erbost. Die Kirchen hätten die Kommission doch eingesetzt und könnten sich folglich nicht aus der Verantwortung stehlen. »Eine Anerkennung würde ich das nicht nennen«, sagt Klaus Peters zu den zweiten 5000 Euro, die er erhalten hat. Hilfreicher wäre eine monatliche Rente, meint er, der kinderlos geblieben ist. »Dass man wenigstens im Alter gut leben kann.« Er verweist auf Österreich: Dort bekommen Menschen, die in Heimen der Kirchen oder des Staates misshandelt worden sind, 300 Euro steuerfreie Zusatzrente. Auch Sonja Behrends spürte durch die 5000 Euro keine Anerkennung. Sie trat kurz nach Erhalt des Geldes aus der evangelischen Kirche aus. Anscheinend will man dort das Thema lieber diskret behandeln. Auf der Antwortmail der Diakonie an Publik-Forum stand ein Satz, der wohl Teil der internen Kommunikation war: »Hier könnten wir antworten, aber ist das wirklich nötig?« Man möchte antworten: Ja, wenn ihr denn irgendetwas in den vergangenen Jahren gelernt habt.

Publik-Forum vom 29.4.2022