Michael Sandel philosophiert vor und mit einem großen Auditorium; Foto: Fronteiras do Pensamento, CC BY-SA 2.0

Die Verantwortung der Eliten für den Populismus

Eine Rezension.

Zum Problem des zunehmenden Populismus ist, so könnte man denken, inzwischen alles gesagt – nur noch nicht von jedem. Aber dem Philosophen Michael Sandel gelingt es überzeugend eine selten benannte Wurzel des Problems freizulegen: nämlich die Leistungsgesellschaft mit ihren Normen.

Der populistische Protest, der sich in der Zustimmung für Trump manifestiere, genauso wie in der Brexit-Abstimmung oder dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien in Europa werde oft entweder als Ausdruck von tiefsitzendem Nationalismus und Rassismus oder von wirtschaftlichem Abgehängtsein verstanden. Beides greift nach Sandel zu kurz. Vor allem gehe es um die fehlende gesellschaftliche Anerkennung derer, die keine akademische Bildung hätten – und die sich deswegen für ihr wirtschaftliches Los selbst verantwortlich fühlen müssten.

Sandel weist auf die Reden amerikanischer Präsidenten hin, die seit der neoliberalen Wende zunehmend den Topos bemühen, dass Amerika das Land sei, in dem alle die Chance haben oder haben sollten, so weit aufzusteigen, wie ihre Fähigkeiten und harte Arbeit sie tragen. Das Erstarken dieser Ideologie der Leistungsgesellschaft zeigt sich auch in der Umcodierung der Gerechtigkeitsdebatten seit den 80er Jahren. Soziale Gerechtigkeit wird nicht mehr zuerst als Verteilungsgerechtigkeit verstanden, sondern – und das gilt auch für Europa – vornehmlich als Chancengerechtigkeit: wenn alle die gleichen Chancen haben, dann spiegelt der wirtschaftliche Erfolg den persönlichen Verdienst wider. Bildung wird kontinentsübergreifend als Königsweg aus der Armut gepriesen. In den USA trifft dies zusätzlich auf ein System von privaten Universitäten, die umso mehr Prestige haben, je mehr Bewerber sie ablehnen. Der in Harvard lehrende Philosoph Sandel findet bei seinem Studierenden nicht nur gestresste Teenager, deren High-School-Jahre von ehrgeizigen Eltern belastet waren, sondern er registriert unter ihnen auch den Glauben, dass sie sich ihren privilegierten Studienplatz selbst erarbeitet hätten. Damit zeigen sie wenig Bewusstsein für die Abhängigkeiten und Zufälligkeiten des Lebens. Denn natürlich hat nicht jeder Schüler dieselben Chancen auf eine Elite-Universität zu kommen: Auslandsaufenthalte der Kinder, private Trainings für Eingangstest und Spenden an die Hochschule können sich nur wohlhabende Eltern leisten.

Aber – und das ist eine wichtige Pointe bei Sandel – selbst wenn es gelänge diese Ungleichheiten auszuschalten, sei das Ideal der Leistungsgesellschaft dazu angetan, Solidarität und Gemeinschaftssinn zu unterminieren: weil diejenigen, die an der Spitze stehen dadurch das Gefühl haben, zu Recht mehr zu verdienen, größeren Einfluss zu haben und auf die anderen herabblicken zu können.

Sandel nennt die Verachtung der weniger Gebildeten das letzte akzeptierte Vorurteil in den westlichen Gesellschaften. In der Tat sind zum Beispiel medial vermittelte Witze über „Dumme“, „Unterschichten“ oder „Prolls“ in einem Maße möglich, wie man sie gegenüber Schwarzen, Frauen oder behinderten Menschen überhaupt nicht mehr akzeptieren würde.

Der britische Soziologe Michael Young warnte schon im Jahr 1958 vor der Dystopie einer Leistungsgesellschaft, in der die, die unten wären zum ersten Mal in der Geschichte keine Möglichkeit mehr hätte, jemand anderen für ihre Verhältnisse verantwortlich zu machen, weil sie doch real oder theoretisch die Möglichkeit zum Bildungsaufstieg gehabt hätten. Tatsächlich aber hat der Bildungsaufstieg Einiger die Ungleichheiten in den westlichen Gesellschaften nicht vermindert – diese sind vielmehr seit den 80er Jahren gewachsen.

Die Verachtung von Seiten der Eliten und die Selbstzweifel ob des eigenen Schicksals seien es, die viele Menschen den Populisten in die Arme trieben. Die helfen ihnen zwar nicht real, aber die sie vermitteln den Nicht-Akademikern eine Form der Anerkennung, die ihnen sonst im gesellschaftlichen Raum versagt bleibt.

Als Weg aus der Misere schlägt Sandel Losverfahren für die Zulassung zu Universitäten vor und die Höherschätzung der nicht-akademischen Arbeit, in dem man diese Arbeit von Steuern entlastet und dafür Vermögen und Kapitaltransfers steuerlich belastet. Das ist richtig, wenn es auch fraglich ist, ob das ausreicht: Der Weg muss hin zu einer tendenziell egalitäreren Gesellschaft gehen, denn in einer extrem ungleichen Welt werden die an der Spitze immer das Bedürfnis haben, ihre Spitzenposition zu verteidigen, in dem sie vorgeben und vielleicht auch selber glauben, dass sie ihre Stellung in der Gesellschaft selber verdient hätten. Das Buch von Sandel ist ein Augenöffner, sehr verständlich und zugänglich geschrieben und doch mit einer Fülle an Fußnoten gut begründet.

Michael Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt ist im Fischerverlag erschienen, hat 444 Seiten und kostet 25 Euro.

SWR 2 Lesenswert Kritik am 23.12.2020