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Die Wahrheit über Traumata?

Ein Streit unter Psychologen.

Mia-Fay Minoris ist eine zierliche, schöne Frau von 48 Jahren. Sie schaut einen offen an beim Sprechen und lacht oft. Aber Ihr Alltag ist kompliziert, weil die Schatten der Vergangenheit sich immer wieder in ihre Gegenwart drängen. Bestimmte Gerüche oder Bilder lösen immer wieder alte Gefühle aus; sie erlebt Flashbacks und Panikattacken:

„Also Flashback, da kriegt man vielleicht Herzrasen, Schwindel, Luftnot, und Sie sind desorientiert, Sie wissen nicht in welcher Zeit Sie sind. Und sie erleben Gewalt am Körper wieder als würde sie jetzt im Moment stattfinden.“

In der Familie von Minoris herrschte Gewalt, der Freund ihrer Mutter hat sie sexuell missbraucht. Das Meiste davon hatte sie so verdrängt, dass sie es nicht mehr bewusst erinnern konnte – bis sie vor zwölf Jahren eine intensive Körpererfahrung machte:

„Ich hab dann mal so ein Anti-Angst-Trainig gemacht, einen Feuerlauf, der hieß: Ich laufe mit meiner Angst oder trotz meiner Angst. Und danach hatte ich ganz heftige Flashbacks in Form von Erinnerungsbildern. Und die haben angefangen mit dem Missbrauch durch den Freund meiner Mutter.“

Wiedererinnern durch Flashbacks – das wurde zum Problem als Minoris einen Antrag auf eine Opferrente beim Landschaftsverband Westfalen gestellt hat. Eine Psychologin des Landschaftsverbandes hat ihre Krankenakte gelesen und dazu eine aussagepsychologische Stellungnahme verfasst. Sie kam zu dem Ergebnis, dass man nicht mehr feststellen könne, ob Minoris sich korrekt erinnere:

Die Analyse der Aussageperson und -geschichte offenbart zahlreiche Faktoren, die sich auf die Angaben zu den fraglichen Ereignissen verfälschend ausgewirkt haben können. […] Es besteht keine Möglichkeit (mehr), anhand einer konkreten (aktuellen) Aussage zum Sachverhalt den Erlebnisbezug nachzuweisen.

„Also im Grunde genommen hat sie meine Aussage damit plattgemacht“, empört sich Minoris, „ich kann eigentlich sagen was ich will. Das ist schon sehr frustrierend, wenn man das dann liest.“

Mia-Fay Minoris wurde gar nicht mehr befragt. Die Psychologin fand: ihre Erinnerungen seien widersprüchlich und wenig plausibel. Weil sie die Erlebnisse erst lange verdrängt und dann wiedererinnert habe, hätten sich viele Fehler einschleichen können.

„Die Störungsbilder, die ich als klinischer Experte diagnostiziere und die mir als Hinweis auf die Belastungsgeschichte des Patienten dienen, die sind genau das Hindernis, an denen der Aussagepsychologe scheitert, weil seine Methode für diesen Komplexitätsgrad nicht mehr greift“,

sagt Guido Flatten, Arzt und Psychotherapeut, Fachmann für Psychotraumatologie. Sein Vorwurf ist pointiert gesagt: Wer am schwersten geschädigt wurde, fällt in der Regel bei einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch.

Aber wie stellt man fest, ob jemand Geschildertes wirklich erlebt hat und glaubhaft ist? Das erklärt Beate Daber, die in Düsseldorf eine Praxis für forensische Psychologie hat: Hierher kommen Menschen nicht um sich therapieren, sondern um ihre Aussagen begutachten zu lassen. Es komme darauf an, ob eine Aussage konstant sei – also zu verschiedenen Zeiten ähnlich erzählt werde – und ob sie realitätsnah sei:

„Das ist einmal Detailierung: also wenn eine Aussage ganz grobrastrig ist und kaum Details enthält, könnte es schwierig werden, den Erlebnisgehalt zu substantiieren; dann Homogenität: Ist die Aussage stimmig oder bietet sie Widersprüche dar? Und dann gibt es zahlreiche andere Realkennzeichen, z.B. sind Interaktionsschilderungen da auf Handlungsebene, auf verbaler Ebene; ist die Aussage stereotyp oder ist sie originell; ist das eingebettet in einen Rahmen, z.B. zeitlich, räumlich, situativ.“

Es geht darum herauszufinden, ob die Aussage wirklich nur aufgrund von eigenem Erleben zustande gekommen ist. Sie könnte ja auch bewusst falsch, also gelogen, sein oder unbewusst falsch erinnert werden:

„Ist es möglich, dass ihm Irrtümer unterlaufen sind? Das kann auch möglich sein und das ist auch mit zu prüfen, in dem man insbesondere anschaut: Wie hat sich die Aussage entwickelt? Gibt es Frühaussagen oder nicht? Wieviel Zeit liegt zwischen dem etwaigen Erleben und der ersten Aussage? Wie ist der Erinnerungsverlauf? Gibt es potenziell verzerrende Einflüsse? Wie ist die Fähigkeit zur Wirklichkeitskontrolle einer Person? So was alles.“

Am stärksten ist das Gutachten, wenn es heißt: Das Geschilderte kann nur aufgrund eines eigenen Erlebens so erzählt werden. Wenn ein Gutachten das nicht bestätigen kann, heißt das freilich nicht, dass das Berichtete nicht passiert ist, es heißt lediglich, dass man nicht belegen kann, dass es so stattgefunden hat.

Angesichts der Fülle an Fehlerquellen besteht keine Möglichkeit, den Erlebnisbezug, als die wahrscheinlichste Möglichkeit herauszuarbeiten,

steht im Gutachten von Mia-Fay Minoris. Die Gutachterin sah zu viele Fehlerquellen in ihrer Schilderung. Sie war sich nicht sicher, dass sie dies alles wirklich erlebt hatte.

Auch der Psychologe Guido Flatten arbeitet als Gutachter für Verfahren, in denen Menschen Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz beantragen. Er schreibt aber keine aussagepsychologischen Gutachten, sondern blickt als klinischer Psychologe auf die Menschen:

„In der Tat schauen wir uns an, mit welcher Beschwerdesymptomatik und mit welcher Geschichte präsentiert sich ein Patient, und selbstverständlich gibt es dann den Begriff der Traumafolgestörung, das heißt, wir haben durchaus Patienten, wo wir aufgrund der Symptomatik sagen können, die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mensch relevante Traumatisierungserfahrungen erlebt hat, ist sehr groß, obwohl es vielleicht gar keine erinnerbaren Traumatisierungserfahrungen gibt.“

Aber auch wenn konkrete Erinnerungen vorliegen, können traumatisierte Menschen sie oft nicht flüssig und logisch erzählen. Die Erfahrung schlimmer Erlebnisse werde unter Stress im Hirn abgelegt, erklärt Guido Flatten:

„Es gibt mehrere Phänomene nebeneinander: die überdetailgenaue Erinnerung von – ich sage mal zum Beispiel – einem unwichtigen Gegenstand: dass der Täter graue Barthaare hatte und nach dem und dem Parfum gerochen hat – und gleichzeitig gibt es in der gleichen Erinnerung amnestische Phönomene, das heißt, dass ein Loch da ist und über eine bestimmte Szene des Hergangs gar nichts berichtet werden kann. Das heißt, für traumatische Erfahrungen ist es ganz typisch, dass wir sagen: Erinnerung ist fragmentiert wie Puzzlesteine, die aber nicht zu einem gesamten Bild zusammengesetzt werden können.“

Die Psychologin Beate Daber kontert:

„Dass Traumata in aller Regel besonders gut erinnert werden können; z.B. wenn Sie Holocaust-Überlebende fragen, die wissen das genau und die können das sehr genau schildern und dass ist eben auch oft bei Sexualstraftaten oder anderen Straftaten. Die Untersuchungen der Gedächtnispsychologie zeigen, solche besonders intensiv negativen Ereignisse werden in der Regel besonders gut erinnert; und daran leiden ja gerade die Patienten an diesen dauernden Wiedererinnerungen.“

Erinnerungslücken nach Traumata oder besonders genaue Schilderungen – wissenschaftliche Studien gibt es für beide Lehrmeinungen. Hirnforscher fragen sich jedoch seit einigen Jahren, ob unsere Gedächtnis überhaupt genau wiedergibt, was wir erlebt haben. Möglicherweise werde Selbsterlebtes auch unbewusst vermischt mit Geschichten, die wir gelesen oder gehört haben. Menschen, die meinten ihre Kriegserlebnisse zu berichten, schilderten zum Beispiel Szenen aus bekannten Kriegsfilmen. Solche gemischten Erinnerungen können auch bei Menschen vorkommen, die sich mit kindlichen Traumatisierungen auseinandersetzen, die fehlenden Puzzlesteine werden sozusagen ersetzt:

„Ich gehe davon aus, dass es auch einem aussagepsychologischen Gutachter nicht möglich ist, diese Wechselwirkungen auszuschalten,“, so Guido Flatten, „und weil es die gibt, ist nach meiner Einschätzung die Regel, dass aussagepsychologische Gutachter bei früher Traumatisierung – Missbrauch, emotionale Vernachlässigung oder körperliche Gewalt in der Kindheit – typischerweise zu dem Schluss kommen: Wir können die Erlebnisfundierung des Berichtes nicht unterstützen.“

Bei Strafverfahren gegen mutmaßliche Missbrauchstäter seien die Zweifel eines aussagepsychologischen Gutachtens dagegen sinnvoll, damit niemand unschuldig verurteilt werde, meint auch Flatten. Aber bei Anträgen nach dem Opferentschädigungsrecht geht es ja nicht um den Verursacher der Gewalt und den genauen Tathergang, sondern lediglich darum, ob jemand Opfer einer Gewalttat geworden ist:

„Wir haben hier einen Menschen mit einem klinisch relevanten Störungsbild mit einer Präsentation von Erinnerungsgeschichten, wo wir zwar nicht sagen können, ob jedes Detail der Erinnerung stimmt, aber wo ich einen kranken Menschen finde, der genügend Hinweise, dass er eine relevante Belastungserfahrung in Kindheit und Jugend erlebt haben muss.“

Für Guido Flatten sollte die aussagepsychologische Begutachtung deswegen bei Opferentschädigungsverfahren nicht angewandt werden. Für Beate Daber ist sie die einzige wissenschaftlich legitimierte Form Aussagen zu bewerten.

WDR 5 / Leonardo vom 11.8.2016