Kardinal Marx meinte noch im Herbst 2018, dass er sich beim Thema Missbrauch immer an die geltenden Leitlinien gehalten habe. Foto: Dieter Schmitt, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6866907

Missbrauchsvorwürfe im „schwarzen Loch“

Was er erzählt, hätte man im Bistum Trier schon 2006 zur Kenntnis nehmen können, wenn man sich an die eigenen Regeln gehalten hätte und sich schon damals für die Akte der Staatsanwaltschaft interessiert hätte. Nennen wir ihn Michael W., heute ein 32jähriger Mann; er hat 2006 gegenüber der Polizei im Saarland eine ausführliche Aussage gemacht – über das, was er mit dem Priester erlebt hat gegen den nun kirchenintern ermittelt wird: Der Priester habe ihn, der damals als 15jähriger im Heim lebte, am Wochenende zu sich eingeladen:

„Das war erstmal kumpelhaft auf die Schulter-Geklopfe, dann kam er immer näher und dann plötzlich Hand unterm T-Shirt, dann zwei Hände unterm T-Shirt, also direkt am Körper; und dann hat er Körperkontakt gesucht; plötzlich saß ich auf seinem Schoß, und das ging dann so eine halbe Stunde.“

Nach einem Fest, bei dem es reichlich Alkohol gegeben habe, habe er den vermeintlich schlafenden Jugendlichen versucht an den Genitalien zu berühren; außerdem habe er versucht, Michael W. zu überreden, mit ihm nackt in die Badewanne zu steigen, was dieser abgelehnt habe.

Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft wegen Verjährung eingestellt. Aber die Staatsanwaltschaft informierte das Bistum. So eine Information ist vom staatlichen Recht vorgesehen, wenn eine Tat zwar nicht strafrechtlich geahndet wird, aber disziplinarrechtliche Schritte gegen den Beschuldigten denkbar sind. In der bischöflichen Personalkommission, in der die Meldung der Staatsanwaltschaft bekannt gegeben wurde, saß auch der damalige Trierer Bischof Reinhard Marx, wie die Pressestelle seines heutigen Erzbistum München-Freising bestätigt.

„Ich finde es schwer nachvollziehbar, dass man seinerzeit nicht mal einen Anlass gesehen hat, um hier die ersten Schritte einer Prüfung einzuleiten“, so Georg Bier, Professor für Kirchenrecht an der Universität Freiburg, „das hätte ja nur bedeutet, dass man der Sache zunächst einmal nachgeht; gerade weil Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker auch schon im Jahr 2006 eine in der Öffentlichkeit sehr diskutierte Problematik gewesen sind.“

Vom Bistum Trier will niemand zu dem Fall ein Interview geben, aber schriftlich lässt man wissen:

Das Bistum Trier hat seinerzeit nach den damals gültigen Leitlinien [der Deutschen Bischofskonferenz] gehandelt. Diese haben noch nicht, wie dies die späteren Leitlinien von 2010 bzw. 2013 tun, vorgesehen, dass in den Fällen, da die staatlichen Ermittlungsbehörden einen Fall nicht aufklären können, die Kirche eigene Ermittlungen anstellt.

Kirchenrechtler Bier widerspricht: Schon die ersten Leitlinien der Bischofskonferenz zum Vorgehen bei Missbrauch durch Geistliche hätten ein anderes Vorgehen erfordert:

„Also es heißt konkret in den Leitlinien von 2002: ‚Jede Verdachtsäußerung wird umgehend geprüft‘; und ja meines Erachtens kann man bei der Sachlage auch zu der Einschätzung kommen, dass eine Verdachtsäußerung vorliegt: Hier wird doch mitgeteilt: Da ist etwas, aber wegen Verjährung verfolgen wir das nicht weiter, und da müssten die kirchlich Zuständigen doch eigentlich mal prüfen, was denn da eigentlich los ist, zumal die Verjährungsregeln für Verfahren im weltlichen Bereich und im kirchlichen Bereich hier nicht einfach gleichförmig sind.“

Das Bistum erklärt, man habe mit dem beschuldigten Priester damals ein Gespräch geführt – aber nicht, wie es die Leitlinien der Bischofskonferenz schon damals gefordert haben, mit dem mutmaßlichen Opfer. Und dann wurde der Hinweis auf das staatsanwaltliche Verfahren, wie das Bistum auf Nachfrage erklärt, in eine „Nebenakte“ getan, also nicht in die normale Personalakte des Priesters.

„Es gibt nach kirchlichem Recht ein Geheimarchiv der bischöflichen Kurie und in diesem Geheimarchiv sind zum Beispiel die Voruntersuchungsakten in Strafverfahren aufzubewahren“, erklärt Kirchenrechtler Bier, „dass auch Hinweise der Staatsanwaltschaft auf potenzielle, vielleicht verjährte Straftaten dort aufzubewahren sind, das geht nicht direkt aus dem kirchlichen Recht hervor, aber es liegt natürlich in der Sache nahe.“

Zugang zu dieser Nebenakte hatte laut Bistum Trier damals nur der Personalchef Rainer Scherschel; der habe, als er 2011 in den Ruhestand gegangen sei, die geheimen Nebenakten ordnungsgemäß an den damaligen Generalvikar, also dem Chef der bischöflichen Verwaltung, Georg Holkenbrink übergeben. Inzwischen ist Holkenbrink Offizial, also Leiter des kirchlichen Gerichts im Bistum, und auch für die kirchenrechtlichen Voruntersuchungen bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch zuständig. Als er die brisanten Akten übernahm, bestand, nach Aussage des Bistums, nach damaligem Informationsstand kein weiterer Handlungsbedarf.

„Dann wäre es die Aufgabe dieses neuen Amtsträgers erst einmal dieses Privatarchiv durchzuschauen. Ob das immer geschieht, weiß ich nicht. Aber wenn das nicht geschieht ist auch klar, dass das Geheimarchiv über kurz oder lang die Funktion eines schwarzen Loches hat: Da verschwinden die Dinge und niemand erinnert sich mehr“, so Georg Bier.

Freilich hätte Holkenbrink nicht mal in die Akten schauen müssen; er selber saß 2006 in der Personalkommission, in der über das eingestellte Verfahren gegen den Priester berichtet wurde, genauso wie der damalige Weihbischof und heutige Bischof von Trier Stephan Ackermann, wie das Bistum auf Nachfrage zugab. Insofern stimmt die Aussage des Bistums nicht, die diese am 23. Mai per Pressemitteilung verlauten ließ:

Auf das damalige Verfahren [aus dem Jahr 2006] wurden die heute Verantwortlichen im Bistum erst im Zusammenhang mit den jüngeren Verfahren aufmerksam.

Verantwortliche werden versteckt. Das Bistum erklärt auf Nachfrage, dass Holkenbrink die Meldung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2006 sieben Jahre später nicht mehr präsent gehabt hätte. Das System der Nebenakten, in dem die brisanten Informationen zum Missbrauchsverdacht verschwinden und bei Personalwechsel leicht dem Vergessen anheimfallen, existiert aber im Bistum immer noch. Es beruht ja auf dem Kirchenrecht, das für alle Bistümer weltweit gilt.

WDR 5 / Diesseits von Eden am 16.6.2016