Jesus mit Buch. Mosaik aus der Pammakaristos Kirche in Istanbul. Foto: V. Menkov - CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11853726

Der Glaube erschafft die Bibel

Eine Rezension.

Was der britische Alttestamentler John Barton mit seiner „Geschichte der Bibel“ vorlegt, ist ein großer Wurf. Andere Gelehrte würden dieses Themenspektrum in drei oder vier Bücher aufteilen, von denen sie nur eines selber schrieben und für die anderen jeweils weitere Fachleute bräuchten: Einmal eine Einführung in die Schriften des Alten und des Neuen Testaments, dann eine Geschichte wie die einzelnen Schriften zur jüdischen bzw. christlichen Bibel wurden und – ebenfalls nicht zu knapp – eine Auslegungsgeschichte der Bibel von der Antike bis zur Gegenwart. Ein umfassendes Lehrbuch, das überhaupt nicht belehrend, sondern auch für Nicht-Fachleute spannend zu lesen ist. Das liegt vielleicht auch daran, dass Barton sein Buch unter eine These stellt, die dem 700-Seiten-Werk fast den Charakter eines flotten Essays verleiht:

dass nämlich die Bibel nicht direkt einen religiösen Glauben und seine Praxis abbildet, weder den jüdischen noch den christlichen. Meiner Ansicht nach ist die Bibel – als eine Sammlung religiöser Texte gesehen – zwar aus vielen Gründen unersetzlich, doch das Christentum ist im Kern keine Schriftreligion, die sich auf ein Buch als einziges, heiliges Werk konzentriert. Ähnlich huldigt das Judentum zwar der Hebräischen Bibel, ist aber nicht so stark auf dieses Buch ausgerichtet, wie man weithin glaubt. (S. 17)

„Ich sage nicht, dass es einen klaren Gegensatz gibt“, meint Barton dazu im Gespräch, „sondern nur, dass die Bibel den christlichen Glauben nicht direkt begründet. Man könnte vielmehr sagen, da es ja einen christlichen Glauben vor der Bibel, also früher als das Neue Testament gab, dass der christliche Glaube das Fundament der Bibel ist und nicht die Bibel das Fundament des christlichen Glaubens.“

In der Tat schufen gläubige Menschen sehr unterschiedliche Texte, die andere Glaubende später als heilige Schrift anerkannten und wieder andere hatten die Last der Auslegung der gesammelten Vielstimmigkeit. So wird klar, warum in dem großen Projekt von Barton alles zusammengehört: Entstehung der Texte, ihr Werden zu Heiligen Schriften zweier Religionen und ihre Auslegungsgeschichte.

Barton führt kundig und niedrigschwellig durch die Theorien zur Entstehung des Alten und Neuen Testaments. Er zitiert die Bibeltexte ausführlich, um zu zeigen, welche Phänomene in den überlieferten Texten zu den Theorien über ihre Entstehung geführt haben. Forschung wird so nachvollziehbar. Dabei führt er recht uneitel in die Forschung ein; er will nicht mit eigenen Theorien glänzen, sondern zeigt, welche Meinung die Mehrheit der Forscher vertritt und wo manche begründet abweichen. Wenn Barton z.B. die Entstehung der drei synoptischen Evangelien, Matthäus, Markus und Lukas, erklärt, führt er in die Standard-Theorie ein, dass Matthäus und Lukas das kurze Markus-Evangelium als Vorlage genutzt haben und noch eine weitere Quelle, da sich sowohl im Matthäus- wie im Lukas-Evangelium Texte finden, die beide gemeinsam haben, die aber nicht im Markus-Evangelium enthalten sind. Diese weitere Quelle, für die es keine Handschriften gibt, auf deren Existenz man also nur aus dem Text der Evangelien rückschließen kann, wird meist Spruchquelle oder einfach Q genannt.
Aber dann überrascht Barton die deutschen Leser, dass man diesen Befund in den Evangelien auch anders deuten kann: Vielleicht hatte Lukas das Markus- und das Matthäus-Evangelium vorliegen, in dem Fall bräuchte man keine zusätzliche, verlorengegangen Quelle Q anzunehmen. Klingt verblüffend einfach, aber:

„Q ist ein Glaubensgegegenstand, absolut, und in der deutschen Wissenschaft wird die Möglichkeit, nicht an die Existenz der Spruchquelle Q zu glauben, nicht in Betracht gezogen“, so Barton. „Aber ich wurde in Oxford von Austin Farrer ausgebildet, der einen Aufsatz geschrieben hat, der in der englischsprachigen Welt berühmt geworden ist: „Verabschiedung von Q“, in den 50ern erschienen, in dem er argumentiert, dass Lukas auch das Matthäus-Evangelium genutzt haben könnte und dann gibt es keine Notwendigkeit Q anzunehmen, […] um die Gemeinsamkeiten von Matthäus und Lukas zu erklären. […] Und vielleicht ist es für deutsche Leser interessant zu wissen, dass es englischsprachige Forscher gibt, die nicht an Q glauben.“

Barton betont völlig zu Recht, dass die Forschungshypothesen zur historischen Entstehung der Bibel oft vom Glauben der Forschenden abhängen: Eher konservative Christen favorisieren meistens frühe Datierungen der Texte – nahe an den berichteten Ereignissen, um ihre historische Zuverlässigkeit zu erweisen. Bemerkenswert dagegen Bartons für einen Bibelforscher selbstkritische Einschätzung:

Wenn Sie nach all dem den Eindruck haben, dass wir über die synoptischen Evangelien weniger wissen, als uns lieb ist, haben Sie nur allzu recht. Auch nach Jahrhunderten der Forschung bleiben sie ein Rätsel, und wer sie schätzt, sollte sich bewusst sein, wie viel wir über ihre Entstehung nicht wissen. (S. 251)

Obwohl die Evangelienschreiber einander überbieten wollten, also jeweils einen besseren und zuverlässigeren Bericht von Jesus Leben schreiben wollten als ihre Vorgänger, so folgte die junge Kirche dieser Intention nicht, sondern bewies eine hohe Ambiguitätstoleranz: Die Kirche entschied sich nicht für ein Evangelium als dem vermeintlich zuverlässigsten Bericht über Jesu Leben. Es setzte sich vielmehr die Sicht durch, dass man Jesu Stimme in den unterschiedlichen und z.T. widersprechenden Zeugen näher kommen könne. So waren die Evangelien zuerst keine heiligen, sondern vielmehr Gebrauchstexte, die nicht selber Autorität beanspruchten, sondern auf Größeres verwiesen: nämlich die Lehre Jesu.

„Die frühen Christen sahen in den Evangelien Sammlungen von Material über Jesus, das sie für die Predigt und die Unterweisung nutzen konnten, aber sie haben es nicht als etwas verstanden, wo jedes Wort direkt von Gott inspiriert ist, wie es damals für das Alte Testament angenommen wurde. Ein Text war nicht als Text wichtig, sondern deswegen, weil man durch ihn etwas von Jesus erfahren konnte.“

Diese Haltung der frühen Kirche empfiehlt der Anglikaner Barton auch den heutigen Gläubigen:

„Ich würde gerne von einer Ressource sprechen, derer man sich bedienen kann, um den eigenen Glauben zu nähren und sich zu informieren. Und es nicht als absolute Autorität verstehen, die über alles regiert, wie manche Christen das sehen. […] Der durchschnittliche Christ, wenigstens in meiner Kirche, fühlt sich nicht jedem Buchstaben in der Bibel verpflichtet, sondern versteht die Bibel als etwas, das Glaubensinhalte erhellt und illustriert, die man aus der überkommenen Lehre oder der eigenen Erfahrung gewonnen hat.“

Das heißt: Die Vielstimmigkeit und die Entwicklung der Bibel zeigt, dass sie nicht als vermeintlich sicheres Fundament des Glaubens genommen werden kann; die Texte verweisen auf etwas, was mehr ist als Heilige Schrift: eine religiöse Erfahrung oder ein Glaube, der einem Zirkel gleich einerseits durch die Bibel gestützt wird und zugleich ihre Autorität begründet.
Ein schönes Buch. Das einzige, was man Bartons Darstellung vorwerfen kann, ist, dass er nicht zu allem die neusten Thesen, den allerletzten Forschungsstand, präsentiert, sondern sich an dem orientiert, was sich schon seit einigen Jahren in der Forschung bewährt hat. Aber so bietet er eine zuverlässige und vor allem literarisch ansprechende Einführung in die Bibel, die hierzulande ihresgleichen sucht.

John Barton, Die Geschichte der Bibel. Von den Ursprüngen bis in die Gegenwart. Aus dem Englischen übersetzt von Jens Hagestedt und Karin Schuler, Klatt-Cotta, Stuttgart 2020, 720 Seiten, 38 Euro.

Deutschlandfunk / Tag für Tag am 15. Oktober 2020