Seit März liegt es auf Eis und dem Kardinal von Köln, Rainer Maria Woelki, wohl schwer im Magen. Das Gutachten über Sexuellen Missbrauch durch Kleriker im Erzbistum Köln, das er selber bei einer Münchener Anwaltskanzlei in Auftrag gegeben hatte, dann aber nicht wie vorgesehen im März veröffentlichte. Es gebe persönlichkeitsrechtliche Bedenken, hieß es; konkret hatten sich ehemalige Verantwortungsträger des Erzbistums juristisch gewehrt und eigene Stellungnahmen zu den Vorwürfen aus dem Gutachten erwirkt. Aber auch das liegt schon einige Zeit zurück und die Stimmen wurden lauter, die endlich eine Veröffentlichung des Gutachtens forderten. Nun kam am Freitag der Paukenschalag: Das Gutachten wird nicht veröffentlicht, es enthalte zu viele juristische Mängel, deswegen soll es ein neues Gutachten zum selben Thema geben. Ein Kommentar:
Ein unabhängiges Gutachten sollte es sein: Er werde es erst mit der Vorstellung bei der Pressekonferenz kennenlernen, betonte Kardinal Rainer Maria Woelki immer wieder, so sei es mit der Münchener Anwaltskanzlei, die die Untersuchung durchführte, verabredet worden. Maximale Transparenz, kein Verschwindenlassen von unliebsamen Ergebnissen – so die Botschaft.
Und nun das! Das Gutachten der Münchener Kanzlei verschwindet doch für immer von der Bildfläche. Formal hat der Kardinal sein Versprechen vermutlich eingehalten. Das Verschwindenlassen des Gutachtens haben andere für ihn besorgt: Andere Juristen haben das Münchener Gutachten gewogen und für zu leicht befunden; genauer für zu moralisch, zu polemisch, ja „streckenweise die Anmutung einer Anklageschrift“ monieren die Gutachter des Gutachtens. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht zweifelhaft. Die Juristen aus München hätten sich nicht auf die nach kirchlichem und staatlichem Strafrecht sanktionierbaren Tatbestände konzentriert.
Ja, war das der Auftrag? Nur aufzuzeigen, wo das Handeln der Verantwortungsträger gegen geltendes Recht verstößt? Wir wissen es nicht, ein genauer Studienauftrag an die Münchener Kanzlei ist nicht veröffentlicht worden. Und vor allem: Wollen wir wissen, dass Kirchenfunktionäre bei Missbrauchsbeschuldigungen formal nicht strafbar gehandelt haben? Oder wollen wir wissen, wie man insgesamt mit Missbrauchsbeschuldigungen umgegangen ist: war man menschlich, auf Seiten der Opfer oder hat man – juristisch vielleicht unangreifbar – beschuldigte Priester gedeckt, aber mit verheerenden Folgen für weitere Menschen, die zu neuen Opfern der Priester wurden.
Einige Hierarchen, die im Münchener Gutachten beschuldigt wurden, haben Gegen-Stellungnahmen verfasst, die hätte man mit dem Münchener Gutachten veröffentlichen können, dann hätte sich jeder selber eine Bild machen können. Das wäre transparent gewesen. Nun aber soll es ein neuer juristischer Gutachter für das Erzbistum richten.
Besser ist es, wie andere Bistümer es machen: Historiker von den Universitäten an die Archive zu lassen und ihnen die Hoheit über die Veröffentlichung zu überlassen. Wissenschaftler müssen ihre Ergebnisse der Kritik der Kollegen stellen – aber das geschieht offen und für jeden interessierten nachvollziehbar. Und Historiker haben einen anderen Ansatz als Juristen: Es geht beim Thema Missbrauchaufarbeitung nicht allein darum, ob juristisch im Rahmen des Erlaubten gehandelt wurde. Es geht um mehr, wenn die Kirchenhierarchen ihre Glaubwürdigkeit behalten wollen: Haben sie ihren eigenen Ansprüchen genügt, die sie immer wieder stolz verkünden?
Mit Kündigung und Neubeauftragung des Gutachtens setzt Woelki neue Maßstäbe: Verwerflich soll nur noch das sein, was mit den Standards des juristischen und kirchlichen Strafrechts sicher als Rechtsverletzung nachgewiesen werden kann. Damit legt er die Latte viel zu niedrig. Der, der als schnellster und konsequentester Aufklärer unter den deutschen Bischöfen gelten wollte, ist nun als der Billigmacher erkennbar. Hoffentlich folgen die anderen Bischöfe seinem Beispiel nicht. Die Blicke gehen ins Bistum Aachen, wo die Münchener Kanzlei ebenfalls die Akten durchsucht hat: In diesem Monat noch sollen dort die Ergebnisse vorgestellt werden. Bischof Dieser, halten Sie Kurs. Nicht vor dem großen Amtsbruder aus Köln erschrecken. Ihr könnt es besser machen als die Kölner.
WDR 5 Diesseits von Eden / 1.11.2020