Schauplatz einer dramatischen Flusspassage: der Collini-Steg in Mannheim. Foto: PM3, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70152148

„Es wäre absurd, wenn die Bibelgeschichten abgeschlossen wären!“

Eine Buchvorstellung.

Patrick Roth ist dadurch bekannt geworden, dass er mythische Stoffe, Figuren und Themen der Bibel, neu erzählt, oftmals provokant weitererzählt hat, man könnte auch sagen: neue Mythen aus altem Material geschaffen hat. Im neuen Buch „Gottesquartett“ geht es nun viel um den Autor der Mythen – und um seine Träume. 

Nach knapp 40 Jahren Leben in Kalifornien überlegte Patrick Roth, ob er wieder in seine Heimatstadt Mannheim umziehen soll; da hatte er einen seltsamen Traum

„Ich stand also neben dem sogenannten Collini-Steg, das ist eine Brücke, die den Neckar da überquert und sah die Böschung hinab und sah: der Neckar ist nicht mehr da! Und sah nach links und sah nach rechts und sah, dass er aufgestaut lag in bauschenden Wasserbergen, also zurückgehalten war. Das ist so was wie Josua, der ins gelobte Land einzieht und dem sich die Wasser des Jordan teilen.“

Nach 40jähriger Wanderschaft erreicht das Volk Israel das gelobte Land Kanaan und es wiederholt sich eine wundersame Flusspassage wie schon beim Auszug aus Ägypten – so erzählt es das Buch Josua in der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament der Christen. Für Roth war sein Traum Ermutigung nach Deutschland zurückzukehren.

Sein neues Buch „Gottesquartett“ handelt von einem Schriftsteller, der mit Freunden in Amerika seine Essays liest und anschließend diskutiert. In diesen Essays berichtet Roth im Stile einer Poetikdozentur von den Vorstellungen und Methoden, die hinter seinen literarischen Texten stehen, die mit mythologischen Motiven spielen: Am Berühmtesten ist seine Christus-Trilogie aus den 90er Jahren. Da macht Roth Jesus zum Mörder. Dahinter steht der Gedanke: Nur wer gesündigt hat, kann die anderen Sünder erlösen.

„Das sind ja keine konstruierten Bilder, ich erzähle ja nicht an den alten mythischen Bildern, weil ich glaube sie müssten irgendwie poliert oder neu gedacht oder umgedacht werden, sondern ich erzähle an ihnen weiter, weil sie weiter in mir wirken.“

Ein wichtiges Bindeglied, die alten Texte mit heutigen Erfahrungen wirkmächtig zu verbinden, ist die Vorstellung von Archetypen: Bilder und Motive, die nach der Lehre des Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung nicht nur in den alten Mythen vorkommen, sondern auch in den Träumen der Menschen. Nach Jungs Vorstellung hat die Seele des Einzelnen Anteil hat am sogenannten kollektiven Unbewussten, in dem diese archetypischen Bilder aufbewahrt sind.

„Denn das kollektive Unbewusste ist eine Schicht, die wir in den Träumen der Individuen ab und zu nachweisen können; verstehen Sie. Nicht jeder Traum, den Sie träumen handelt von der Tante Betty oder von dem Gerhard, den ich kenne und der zwei Häuserblocks weiter wohnt, sondern das sind dann Träume, in denen Motive auftauchen, mit denen Sie noch nie in Ihrem Leben in Berührung gekommen sind.“

Ob wir mit unseren Träumen an etwas wie ein kollektives Unbewusstes herankommen, ist höchst umstritten. Dass aber Bibeltexte Wirkung zeigen, wenn wir sie mit eigenen Erfahrungen und Emotionen verbinden, das macht Roth immer wieder plastisch klar auch ohne tiefenpsychologisches Fachvokabular:

Zur Lektüre eines jeden Buches empfahl Emerson mir folgende Einstellung: Lesend sammelnd sollte ich immer davon ausgehen, dass „jedem erzählten Fakt etwas in mir entsprechen muss. Denn erst dann wird er glaubwürdig, leuchtet er ein. Wir – beim Lesen schon! – müssen Griechen, müssen Römer, müssen Juden werden, uns im Schriftgelehrten und Priester, im König und Tyrannen, im Märtyrer und im Henker wiedererkennen.“ (S. 72f.)

Etwas, das heute zum Beispiel in der Form des Bibliodramas versucht wird: Menschen lesen die Bibelgeschichten laut und spielen sie nach und schaffen so Identifikationen mit den handelnden Figuren. Leser von Roths literarischen Mythen werden vielleicht enttäuscht sein, im neuen Buch nur wenige erzählende Passagen mit biblischen Figuren zu finden: So erzählt Roth die Bekehrung des Paulus neu. Statt Jesus vor Damaskus zu sehen, sucht Paulus tagelang nach einem schwarzen Pferd, das bei Roth vermutlich für die destruktive Energie von Paulus Persönlichkeit steht, die er einzuholen hat.

Die Erzählungen aber bleiben Episoden im „Gottesquartett“; dafür werden die Lesenden angeleitet, ihr eigenes Leben als einen Kommentar zu den alten Texten zu sehen: Es komme drauf an aufmerksam zu sein auf die eigenen Träume, Gefühle, Wünsche und Hoffnungen auf subjektive freie Assoziationen: sie schüfen Verbindungen zu den Geschichten der Bibel:

„Ich finde den Gedanken eher absurd, dass wir wirklich annehmen, dass ein Buch wie das Alte Testament oder das Neue Testament, dass das mit seinem Geschriebensein, historisch irgendwann Abgeschlossensein, tatsächlich abgeschlossen wäre. Das wäre ja Wahnsinn, verstehen Sie; dann hätte das Buch kein Leben mehr, es würde sich einfach nicht mehr fortpflanzen können in der Seele des Menschen, im Einzelnen.“

Patrick Roth, Gottesquartet. Erzählungen eines Ausgewanderten, Herder Verlag, Freiburg 2020, 224 Seiten, 22 Euro.

WDR 5 / Diesseits von Eden am 23.8.2020