Bärte verändern die Welt. Foto: Manfred Brückels, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=351408

Interpretieren, um zu verändern

Eine Rezension.

Interpretieren, um zu verändern. Für diesen Titel müssen der Münsteraner Philosoph Kurt Bayertz und sein Verlag eigentlich schon einen Preis kriegen. Er trifft nicht nur das, was Marx tat: Er verbrachte viel Lebenszeit im Lesesaal des British Museum und versuchte die bürgerliche Ökonomie zu interpretieren und entfaltete damit eine weltweite Wirkung wie kaum ein anderer vor oder nach ihm. Der Titel zeigt aber zugleich das Selbstmissverständnis von Marx, der ja gemäß seiner berühmten Feuerbachthese, die Welt nicht nur wie die Philosophen anders interpretieren, sondern verändern wollte. Dass er dies aber ausgerechnet durch Interpretation tat, ist eine schöne Ironie. Und die Pointe von Kurt Bayertz ist: Marx habe die Welt eben auch wie ein Philosoph interpretiert. Auch in seinen ökonomischen Hauptwerken sei er seinen philosophischen Grundlagen treu geblieben, habe also gar nicht – wie er selbst manchmal meinte – die Philosophie verlassen, um den Sozialismus streng wissenschaftlich zu begründen. Und diese philosophische Grundlage war der Materialismus.

Bayertz kokettiert im Vorwort zwar damit, dass viele andere nur versucht hätten, zu beweisen, dass Marx Recht bzw. Unrecht hatte. Es komme aber erstmal darauf an, ihn zu verstehen. Aber wenn wir ehrlich sind: So schmal ist die Literatur zu Marx nicht und dass Marx Materialist war – er selber hat nichts anderes behauptet – ist so überraschend und neu denn auch wieder nicht. Marx glaubte aber, dass seine materialistische Perspektive eben dem wissenschaftlichen Anspruch entsprach, den er an seine Arbeit und die sozialistische Bewegung stellte. Bayertz weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass Materialismus eine philosophische Position ist, die auf die ultimativen Bausteine der Wirklichkeit ziele also durchaus meta-physisch sei – sich also nicht allein aus einer vorurteilslosen Betrachtung der Natur ergebe.

Kurt Bayertz, Emeritus der Universität Münster, ist ein Fachmann für den Materialismus des 18. und 19. Jahrhunderts – und so begnügt er sich natürlich nicht mit der Binse, dass Marx Materialist war, sondern versucht ihn in dieser heterogenen Strömung zu verorten und zeichnet nach, wie die philosophischen Prämissen, das Marx’sche Denken prägen. Das geschieht in einer Mischung aus systematischen und biografischen Betrachtungen: geht es doch auch darum, der Behauptung von Marx und einigen seiner Interpreten nachzugehen, dass Marx aus der Philosophie „herausgesprungen“ sei, sich also von den philosophischen Fragen seiner Jugend verabschiedet und der wissenschaftlichen Betrachtung der Ökonomie zugewandt habe. Umgekehrt würde ein Schuh daraus, so Bayertz: Die philosophischen Fragen, verbunden mit den politischen Erfahrungen seiner Zeit, hätten ihn zum Materialisten und Kommunisten gemacht: Wenn es nicht gelinge, die Welt durch Ideale zu verändern, müsste die Kraft zur Veränderung in materiellen Grundlagen zu finden sein. Durch die Auseinandersetzung mit Feuerbach habe Marx diese materielle Kraft im schaffenden Menschen gesehen, der seine Welt hervorbringe. Auf den Spuren dieses Theorie-Praxis-Problems sei Marx zum Kommunisten geworden, weil er glaubte im Proletariat den Teil der Menschheit zu finden, der die bestehenden Verhältnisse verändern könne. Das sei in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts keine Aussage gewesen, die viel empirische Evidenz für sich hatte, so Bayertz. Die sozialistische Bewegung sei noch keine weltverändernde Macht gewesen.

Von diesem Ausgang sei Marx‘ Interpretation der bürgerlichen Ökonomie geprägt: Es sei ihm darum gegangen, die Bewegungen der Ökonomie so zu erfassen, dass sie auf eine Veränderung der herrschenden Produktionsweise hinwirkten. Was aber, wenn die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus von sich aus gar nicht auf eine Veränderung drängen? Wenn das System verdammt stabil sein kann? Was, wenn es nicht der schaffende Mensch ist, der den Wert der Waren schafft, sondern verrückte Bewertungen und Kapitalbewegungen zu Wertsteigerungen oder -verlusten führen? Bayertz stellt diese Fragen nicht explizit, es geht ihm nicht um einen billigen Triumph, sondern ums Verstehen. Die Fragen drängen sich aber beim Lesen auf. Denn gerade die Vorstellungen von Veränderung und Fortschritt der Menschheit, die Marx Variante des Materialismus prägten, verstehen sich heute keineswegs mehr von selbst.

Nichts grundstürzend Neues, was Bayertz da schreibt, aber eine kundige und sehr elegant geschriebene Einführung in die philosophischen Grundlagen der Marx’schen Lehre.

Kurt Bayertz, Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie.
C.H. Beck, München 2018, 272 Seiten, 24,95 €.

SWR 2 / Lesenswert Kritik am 4.4.2018