Bonhoeffer als Glasbild in der Annakirche in Heerlen (Mitte). Foto: Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24134180

In den Grenzen bürgerlicher Kirchlichkeit

Eine Rezension.

Nur weil Dietrich Bonhoeffer von den Nazis ermordet wurde, wurden seine Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft überhaupt veröffentlicht: Andernfalls wären es private Dokumente gewesen, Vorarbeiten zu späteren Werken, Radikales in einer existenziellen Notlage niedergeschrieben, was außerhalb der Gefängnismauern sicher gemäßigter und durchdachter aufs Papier gekommen wäre. Aber genau so, als Fragmente aus der Haft, sind die Texte eine radikale theologische Neubesinnung angesichts des Versagens der evangelischen Kirche während der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Texte leben einerseits von der existenziellen Notlage des Autors, der aufgrund seiner Beteiligung an der Verschwörung gegen Hitler mit dem Tod rechnen muss, und andererseits von der Radikalität, mit der hier das Ganze des Glaubens nochmal neu durchbuchstabiert wird:

Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade nur so ist er bei uns und hilft uns.

Vieles blieb offen, fragmentarisch oder gar rätselhaft und zog meterweise Sekundärliteratur nach sich aus vielen Ländern der Welt. Man sollte meinen, zu Bonhoeffer sei inzwischen alles gesagt. Was soll da noch Neues kommen, wenn nun auch der ehemalige Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland und Mitherausgeber der Bonhoeffer-Werkausgabe, Wolfgang Huber, seine Sicht auf das Lebenswerk Bonhoeffers vorlegt?

Aber: Huber ist ein ausgewiesener Kenner des Bonhoeffer’schen Werkes und er legt mit seinem „Porträt“ eine sehr gut lesbare und sehr instruktive Vorstellung von Bonhoeffers Werk vor.

In der Beschäftigung mit dem Denken Bonhoeffers habe ich die Erfahrung gemacht, dass seine großen Themen gerade dann zu leuchten beginnen, wenn sie in seiner Lebensgeschichte verortet werden. Zugleich lässt sich das Anregungspotential dieser Theologie für das eigene Denken wie für heutige Verantwortung auf diesem Weg deutlicher herausarbeiten als bei der Beschränkung auf eine biografische Erzählung auf der einen Seite oder eine dogmatische Rekonstruktion inhaltlicher Themen auf der anderen. (S. 37)

Das Verfahren Lebensgeschichte und Denken Bonhoeffers zu verbinden ist nicht neu, aber von Huber gut umgesetzt: Nach einem Übersichtskapitel über den Lebenslauf ist Hubers Buch in thematische Kapitel eingeteilt, die jeweils den Denk- und Lebensweg Bonhoeffers zu einem Thema nachzeichnen. Besser als anderen Darstellungen gelingt es dabei Bonhoeffers Denken in die theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und in die geistige Großwetterlage des Protestantismus einzuordnen. Überzeugend ist es auch, für Bonhoeffers Lebens- und Denkweg seine Herkunft aus einem bildungsbeflissenen großbürgerlichen Milieu als zentral herauszustellen: Dietrich und seine Geschwister

bewegten sich in einem Freundeskreis, in dem man sich früh einer besonderen Berufung bewusst war. […] Das Bewusstsein, in einer Elite aufzuwachsen und zu entsprechender Verantwortung verpflichtet zu sein, prägte von früh auf das Selbstverständnis dieses Kreises. (S. 11)

Das bildungsbürgerliche Herkunftsmilieu Bonhoeffers ist dem Professorensohn Wolfgang Huber nicht fremd; es wird von Huber aber nur als Chance und Gewinn und nicht auch als Grenze des Bonhoeffer’schen Denkens wahrgenommen. Dabei prägte das elitäre Bewusstsein noch die berühmte Formel Bonhoeffers, dass Kirche nur Kirche sein könne, wenn sie für andere da sei. Dass die Anderen, die Schwachen nicht nur Objekt des Kümmerns sind, sondern selber Kirche, also Gottes Ort in der Welt, liegt wohl in der Konsequenz von Bonhoeffers Denken, bleibt aber bei ihm noch hinter dem paternalistischen Gestus verborgen.

Vor allem aber nimmt der Ex-Bischof Huber die Enttäuschung Bonhoeffers über seine Kirche nicht in aller Schärfe wahr. Kurz gesagt war es Bonhoeffers Erfahrung, dass er im Nazi-Gefängnis kaum andere Christen traf, weil seine Kirche sich weitgehend an die Herrschaftsverhältnisse angepasst hatte und eben nicht für andere, konkret die Juden, da war. Huber relativiert Bonhoeffers Satz über die Kirche:

Doch wenn man diese Formel [von der Kirche für andere] unabhängig von solchen konkreten Herausforderungen als Leitformel für die Existenz und das Handeln der Kirche schlechthin versteht, gewinnt sie ein problematisches Gefälle. Dann wird das Dasein für andere nicht mehr in zureichender Weise an die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden zurückgebunden. (S. 85)

Bonhoeffer traf im Gefängnis auf Atheisten, Kommunisten, Humanisten, die mehr für andere da waren als seine christlichen Kollegen. Sie waren mit ihrem Engagement in seiner Sicht wohl Gott näher als viele Glaubenden. Sie waren Vorbild für eine Kirche, die Bonhoeffer gerne runderneuern wollte:

Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, eventuell einen weltlichen Beruf ausüben. […] Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, „für andere dazusein“. […] Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vorbildes nicht unterschätzen dürfen; nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.

Das ist dem Ex-Bischof Wolfgang Huber dann wohl doch zu konkret und ein bisschen peinlich. Er übergeht diesen Vorschlag Bonhoeffers. So bleibt das Porträt von Wolfgang Huber bei aller Gelehrsamkeit doch gefangen in den Grenzen der immer noch bestehenden bürgerlichen Kirchlichkeit.

Wolfgang Huber, Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt, C.H.Beck, München 2019, 336 Seiten, 26,95 Euro.

WDR 3 / Gutenbergs Welt vom 22.6.2019