War Ludwig Erhard beim Wirtschaftswundern gedopt? Foto: Eric Koch / Anefo , CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67347075

Mythos Soziale Marktwirtschaft

Eine Rezension.

„Zusammen mit der Währungsreform und dem Abbau der Zwangswirtschaft wird 1948 in den drei Westzonen die Soziale Marktwirtschaft eingeführt. Dieser von Alfred Müller-Armack geprägte Begriff bezeichnet ein Wirtschaftsmodell, das bei grundsätzlicher Unterstützung der wirtschaftlichen Freiheit zugleich die Regulierungs- und Kontrollfunktion des Staates betont, um unsoziale Auswirkungen zu verhindern und ‚Wohlstand für alle‘ zu schaffen.“

So liest man es im Online-Museum des Bonner Hauses der Geschichte. In dieser quasi offiziellen Version der BRD-Geschichte fehlt natürlich auch nicht der Hinweis, dass Ludwig Erhard als „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“ gilt. Der Erfolg hat aber bekanntlich viele Väter, und dass die „Soziale Marktwirtschaft“ ein Erfolg bzw. ein hegemoniales Dispositiv geworden ist, lässt sich kaum bestreiten.

Allein, es war keineswegs so, dass Erhard ein wirtschaftspolitisches Konzept von Müller-Armack mit der Währungsreform im Juni 1948 umgesetzt hätte. Und vor allem hieß das, worüber Mitte des Jahres 1948 gestritten wurde, noch gar nicht Soziale Marktwirtschaft. Der Begriff, der zum wirtschaftspolitischen Leitstern fast aller Parteien, der Unternehmerverbände wie der Gewerkschaften und der beiden großen Kirchen in Deutschland geworden ist, verdankt sich vielmehr dem Widerstand gegen Erhards Politik. Die Soziale Marktwirtschaft wurde

„überhaupt nicht eingeführt, sondern ist das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die auf den Märkten, den Straßen, im Betrieb und im Parlament stattfanden“ (S. 317).

Dies ist das wesentliche Ergebnis der Dissertation des Berliner Historikers Uwe Fuhrmann, der damit ein Musterbeispiel dafür geliefert hat, was historisch-kritische Arbeit zu leisten vermag, wenn sie liebgewordene Vorstellungen an den verfügbaren Quellen überprüft. Damit hat Fuhrmann als Sozialhistoriker ein Feld bereichert, das sonst vornehmlich ideengeschichtlich behandelt wird.

Fuhrmann untersucht die Wirtschaftspolitik und die sie begleitende Rhetorik der Jahre 1948 und 1949 in den westlichen Besatzungszonen. Mit einer von Michel Foucault inspirierten Dispositivanalyse will er nicht nur Diskurse untersuchen, sondern auch institutionelle Arrangements; im vorliegenden Fall sind das vor allem staatliche Gesetze, die neue Wirtschaftsformen festgelegt haben. Unter einem Dispositiv versteht Fuhrmann eine Herrschaftsstrategie, die auf einen Notstand reagiert, aber aufgrund von Widerstand auch modifiziert werden kann (S. 21). Eine solche Modifikation war die Aufnahme neuer Elemente in die Wirtschaftspolitik und die Sprachregelung, dass es sich bei der neuen Wirtschaft um eine „soziale Marktwirtschaft“ handele. Ludwig Erhard hingegen wollte eine „freie Marktwirtschaft“ einführen und warb auch entsprechend dafür, denn er sah im freien Spiel von Angebot und Nachfrage das entscheidende Moment einer neuen Wirtschaftsordnung.

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren gab es ein Bewirtschaftungssystem, das die Verteilung über Bezugsscheine regelte und die Produktion staatlich steuerte. Mangel und Hunger waren allgegenwärtig – nicht zuletzt, weil viele Waren zurückgehalten oder über den Schwarzmarkt vertrieben wurden. Anstelle eines Ent-Hortungsgesetzes setzte Erhard als Quasi-Wirtschaftsminister der deutschen Selbstverwaltung auf eine Währungsreform mit Preisfreigabe. Die Währungsreform war nötig, um das Missverhältnis zwischen Waren und Geld zu beheben. Dazu kam aber noch die sozial verheerende Mischung aus freigegebenen Preise, die auch prompt in verschiedenen Bereichen (Schuhe, Textilien, Obst und Gemüse) enorm anstiegen, und den Löhnen, die weiter – wie unter dem Bewirtschaftungssystem – gedeckelt blieben. Es kam zu Protesten, die zwar von der Not angestoßen, aber weit mehr waren als bloße Hungerrevolten, sondern Kämpfe um „Preisfestsetzungen“, wie Fuhrmann mit Hinweis auf E.P.Thompsons Aufsatz zur moralischen Ökonomie der Unterschichten im 18. Jahrhundert schreibt (S. 177). Immer wieder betont Fuhrmann die politischen Forderungen der Protestierenden nach einer stärker staatlich gelenkten Wirtschaft und führt gut in die grundsätzlichen Auseinandersetzungen ein, die in den Jahren nach 1945 um die richtige Wirtschaftsordnung geführt wurden.

Durch den wiederkehrenden Hinweis auf E.P.Thompson legt Fuhrmann eine interessante Spur: Eine in verschiedenen historischen Kontexten aktualisierte Alternative zum freien Markt ist das bei vielen Menschen lebendige Bewusstsein von der Angemessenheit von Preisen. Und: Die Auseinandersetzungen um Preise zielen durchaus in das Herz der kapitalistischen Ökonomie.
Die Proteste, die Fuhrmann aus Zeitungsarchiven rekonstruiert, waren offensichtlich so massiv, dass die deutsche Selbstverwaltung umsteuern musste: Man griff über staatlich kontrollierte Produktionen für Konsumgüter (sogenannten „Jedermann-Waren“) und mit Preis-Obergrenzen in das Geschehen ein. Damit aber verließ man faktisch wieder die Grundsätze eines „freien Marktes“. Zu diesem Zeitpunkt forderten nun oppositionelle SPD-Politiker und Gewerkschafter eine „soziale“, statt einer „freien Marktwirtschaft“ ein – ohne freilich ganz genau zu sagen, welche Wirtschaftsordnung sie damit verbanden. Die Leitung der Selbstverwaltung nahm den Terminus auf: Angesichts eines DGB-Aufrufs zum Generalstreik am 12.November 1948 verkündete der Oberdirektor des Verwaltungsrates der Bi-Zone, Hermann Pünder, zwei Tage zuvor, dass man immer schon eine „soziale Marktwirtschaft“ verfolgt habe – und verschleierte so die faktische Revision der bisherigen Politik der „freien Marktwirtschaft“.

Fuhrmann deutet das Adjektiv „sozial“ vor der Marktwirtschaft, das dann im folgenden Jahr Einzug in die offizielle CDU-Programmatik hielt, überzeugend als „leeren Signifikanten“ und nimmt damit einen Vorschlag des Politologen Martin Nonhoff auf: Es geht um einen Signifikanten, der zwar ein Sinn-Erbe transportiert und damit bestimmte Vorstellungen evoziert, aber hinreichend unbestimmt ist, so dass letztlich sehr unterschiedliche bis gegensätzliche Gehalte darunter verstanden werden können. Was folgte waren Konflikte um die wahre Bedeutung des Signifikanten, nicht mehr um seine grundsätzliche Berechtigung. Nach Nonhoff ist dies ein „Zeichen für eine erfolgreiche hegemoniale Praxis“ (S. 296) – die wohl bis heute andauert.

Das einzige, was man in Fuhrmanns anregender Analyse vermissen kann, ist der etwas detailliertere Bezug auf die theoretischen Bewegungen zur Soziale Marktwirtschaft im untersuchten Zeitraum. Es bleibt überzeugend, dass Müller-Armack mit seiner Idee der Sozialen Marktwirtschaft, erstmals 1947 publiziert, erst später (1952) in die Politik geholt wurde als das neue, modifizierte Dispositiv festgezurrt war. Aber dennoch gab es schon vorher Verbindungen von Erhard zu den ordo- oder neoliberalen Theoretikern, die ihn munitionierten. Die deutet Fuhrmann auch an. Zu wünschen bleibt, dass seine Arbeit die explizite Verbindung von kritischer Ideengeschichte mit der Sozialgeschichte des Neoliberalismus anregt.

Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/1949. Eine historische Dispositivanalyse, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz und München 2017, 360 S., 39 €.

Das Argument Nr. 331 vom April 2019