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Das Leben erzählen, damit es wahr wird

»Der junge Mann« heißt das neue Buch der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Es ist schmal, umfasst aber ihr ganzes Schreiben. Eine Hommage an die Meisterin des Ich-Sagens.

Vor fünf Jahren verbrachte ich eine unbeholfene Nacht mit einem Studenten, der mir seit einem Jahr schrieb und der sich mit mir hatte treffen wollen. Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen.« So beginnt das jüngste Buch »Der junge Mann« der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Darin schreibt sie über eine Liaison, die sie mit Mitte 50 mit einem rund 30 Jahre jüngeren Mann hatte.

Die mittlerweile 82-jährige Ernaux ist dafür bekannt, in ihren autobiografischen Texten an die Schmerz- und Schampunkte ihres eigenen Lebens zurückzugehen. Wer aber nach diesem Anfang saftige sexuelle Details erwartet, geht fehl; dafür sind andere in der französischen Literatur zuständig. Die Scham, gegen die Ernaux anschreibt, rührt nicht von persönlichen sexuellen Vorlieben her, die Scham wird durch den missbilligenden Blick der anderen vermittelt; zum Beispiel der Gäste im Restaurant, das sie mit ihrem Freund besucht: Er könnte ihr Sohn sein! Ernaux will sich nicht verstecken, »wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen«. Es geht ihr um das Gefühl der Scham, das Frauen häufiger empfinden als Männer, weil ihre Sexualität stärker reguliert wird: vorehelicher Sex, eine Abtreibung, die Liebe zu einem jüngeren Mann. Und es geht in Ernauxs Werk auch um die Scham, die sie als Kind eines Arbeiters und der Besitzerin eines kleinen Ladens empfunden hat bei ihrem gesellschaftlichen Aufstieg in das Bildungsbürgertum.

Ernauxs Herkunft spielt auch eine wichtige Rolle in der Erzählung über den jungen Mann, der nämlich ebenfalls einer Nichtakademikerfamilie entstammt. »Er hatte die Reflexe und spontanen Gesten, die von einem dauerhaften, ererbten Geldmangel herrühren.« Als Studentin war Ernaux bestrebt gewesen, ihre »prollige« Herkunft abzustreifen, jetzt zog diese Herkunft sie an: weil sie, die Lehrerin und Schriftstellerin, sich dem jungen Mann gegenüber als Bildungsbürgerin fühlen konnte, die ihn in die Hochkultur einführte. Und weil sie mit ihm ihre eigene Zeit als Studentin noch einmal erleben konnte.

Der Abdruck der Welt

In dem Buch von gerade etwas über 30 Textseiten geht es um den Zusammenhang von Schreiben und Leben: »Der Hauptgrund, warum ich unsere Geschichte fortführen wollte, war, dass sie in einem gewissen Sinne bereits stattgefunden hatte und ich darin eine fiktive Figur war.« In der Beziehung zu dem jungen Mann schieben sich die Zeiten übereinander: Das frühere Ich wird anschaubar und erzählbar wie eine Romanfigur. Es geht um die Aneignung des Vergangenen. Die aber geschieht für Ernaux nur unvollkommen im wiederholten Erleben bestimmter Orte und Ereignisse mit dem jungen Mann. Eine Lösung der Vergangenheit erlebt sie erst durch das Schreiben, das Erzählen eines Ereignisses. Und so endet die Beziehung zu dem jungen Mann mit der Fertigstellung von Ernauxs Erzählung »Das Ereignis« über ihre Abtreibung während der Studienzeit. Mit dem Aufschreiben des Bedrängenden und Schambehafteten wird die Wiederholung überflüssig, das Erlebte findet durch die Erzählung seinen Platz in der Welt.

»Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.« Dieser Satz steht als Motto über der Geschichte vom jungen Mann. Um die Pointe dieses Satzes zu erfassen, lohnt ein Vergleich mit einem anderen Literaturnobelpreisträger: Gabriel García Márquez. Der hat seine Autobiografie »Leben, um davon zu erzählen« unter das Motto gestellt: »Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.« 600 Seiten bei Márquez zeugen von einer Fabulierlust, der es wohl nicht zuerst darum geht, wie es wirklich gewesen ist, das ist ja nach einmal Erleben vergangen. Wichtiger ist Márquez, wie das Leben immer wieder erinnert und in der Erzählung aktualisiert wird. Ein fröhlicher Konstruktivismus spricht sich da aus.

Anders bei Ernaux, die sorgsam mithilfe von Fotos und Tagebüchern versucht, sich in die Welt ihrer früheren Ichs hineinzuversetzen. Sie erzählt nicht elegant und verzichtet auf Metaphern, sie schmückt nicht aus, sondern schreibt knapp und möglichst präzise: das, was gewesen ist, und wie sie sich dabei gefühlt hat. So sind viele ihrer Bücher nur zwischen 100 und 150 Seiten stark. In ihrer »Erinnerung eines Mädchens« schreibt sie: »Wenn ich dem Jahr 1958 auf den Grund gehen will, muss ich die Zerstörung aller Interpretationen akzeptieren, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Nichts glätten. Ich konstruiere keine Romanfigur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich damals gewesen bin.« Obwohl sie sich selbst zur »literarischen Figur« wird, sieht Ernaux ihre literarische Aufgabe nicht in der Schöpfung, sondern in der Freilegung einer Figur. Zu dieser Dekonstruktion gehört es, das Mädchen von damals in den Bedingungen des Jahres 1958 wahrzunehmen. Ernaux will, wie sie an anderer Stelle sagt, »den Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat«, in ihren Erzählungen sichtbar werden lassen. Sie sucht die Bedingungen ihres früheren Lebens also nicht in ihrem individuellen Geschick, sondern in überindividuellen Faktoren wie Klasse und Zeitgeschichte.

Die eigenen Leute rächen

Ihr Schreiben ist denkbar weit entfernt von einer psychoanalytischen Selbstbetrachtung; viel eher ist es eine soziologische Analyse. Das zeigt sich vor allem in den zwei Büchern über ihre Eltern. Wenn man die Bücher zu ihrem Vater und ihrer Mutter liest, dann erfährt man nicht, welches Verhältnis die Tochter zu ihren Eltern hatte, ob sie verbittert, versöhnt oder sonst wie zu ihnen steht. Aber man lernt die Welt begreifen, der die Eltern entstammen: eine in mancher Hinsicht noch mittelalterliche Welt im ländlichen Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der es Knechte und Mägde gab und Bildung einzig über die Kirche möglich war. Die Welt von Härte und Frömmigkeit erlebte auch die Autorin nach dem Zweiten Weltkrieg noch. Ihr Bildungsaufstieg gelingt über eine katholische Mädchenschule, Urlaube waren für die Familie nur über kirchliche Pilgerreisen möglich, die Moral war kirchlich-konservativ, das sexuelle Erwachen der Tochter wird von der Mutter misstrauisch überwacht. Und auch wenn in diese Welt feine Unterschiede eingezogen sind, etwa zwischen Arbeitern, Ladenbesitzerinnen und einfachen Angestellten – das Bürgertum, in das Annie Ernaux überwechselt, bleibt für die Mutter zeitlebens fremd, auch wenn sie später bei der erwachsenen Tochter und den Enkeln mit im Haushalt lebt.

So kann man die Bücher als Geschichte einer Entfremdung lesen. Ernaux spricht vom »Klassenverrat«, den sie begangen habe. Aber man darf der Autorin auch das tiefe Verständnis unterstellen, das man beim Lesen für die Protagonistin und den Protagonisten ihrer Elternbücher empfindet. So war die Welt damals. Da gibt es den Eltern weder etwas nachzutragen noch zu verzeihen. Und doch geht es um mehr als um das Aneinanderreihen von soziologisch scharfen Beobachtungen. Ernauxs Vorgehen ist eindeutig literarischer Art, sie will ihr Leben wie das ihrer Eltern erzählen; das heißt: Sie wählt aus, was berichtenswert ist, versucht es in eine stimmige Ordnung zu bringen und hofft so, etwas hervorzuholen, was sich »allen soziologischen und psychologischen Erklärungsversuchen widersetzt«, was nur in der Erzählung hervortritt und »helfen kann zu verstehen – und zu ertragen –, was passiert und was man tut«. Der »Abdruck der Welt« hinterlässt bei jedem Menschen individuelle Spuren; das Persönliche soll nicht hinter dem Allgemeinen verschwinden.

Ernaux hat sich im Studium geschworen: zu schreiben, um ihre Leute zu rächen. Wie aber kann die, die aus der eigenen Herkunft desertiert ist, die Zurückgelassenen rächen? Das kann man sehr schön in dem Buch »Die Jahre« beobachten. (Einige dieser dort beschriebenen Jahre sind auch Gegenstand des aktuellen Films »Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre«.) Annie Ernaux nutzt ihre Herkunft nicht, wie es mitunter in identitätspolitischen Debatten geschieht, als Trumpf. Sie schreibt nicht gegen die Scheinheiligkeiten und Inkonsequenzen des Bürgertums mit der Attitude: Weil ich anders bin, durchschaue ich euren Klassismus. Nein, sie weiß, dass sie selber eine Bürgerliche geworden ist, und kann nur mit feiner Selbstironie von eigenen Inkonsequenzen berichten: wie sie als Lehrerin Schülerinnen und Schüler Aufsätze darüber schreiben lässt, ob Besitz glücklich macht, und sich wie alle anderen an neuen Elektronikgeräten erfreut: »Für uns und durch uns wurde der Konsum zu etwas Erhabenem.«

Außerdem liegt über ihrer Herkunft so viel Scham, dass sie kein Trumpf sein kann. Da ist keine sichere Identität, die sie gegen andere in Stellung bringen könnte, sondern ihr Schreiben ist der Versuch, sich selbst überhaupt erst zu verorten, sich mit der eigenen Geschichte in die äußere Geschichte einzuschreiben, also einen Platz in der Welt zu finden und zu behaupten. Sie verteidigt und realisiert die demokratische Errungenschaft, dass jede und jeder »ich« sagen darf und zum Subjekt einer Geschichte in der Welt wird.

Im Persönlichen das Allgemeine

Am Ende ihres Berichts über ihre illegale Abtreibung in den frühen 1960er-Jahren schreibt Ernaux: »Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte. Und das wahre Ziel meines Lebens ist vielleicht dies: dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken zu Geschriebenem werden, zu etwas Verständlichem und Allgemeinem also, dass meine Existenz vollkommen im Kopf und im Leben der anderen aufgeht.« Man kann das missverstehen als eine Überschätzung der eigenen Person. Man kann darin aber auch die Lösung für ein Leben sehen, das die eigene Klasse verraten hat und sie zugleich rächt. Es kommt nicht darauf an, selber das rettende Ufer einer bürgerlichen Existenz erreicht zu haben, sondern die Schwierigkeiten, die Scham und die Entfremdungen, die auf diesem Lebensweg lagen, zu beschreiben. Dann hätte das Leben ein Ziel erreicht jenseits des bürgerlichen Glücks einer materiell gesicherten Existenz mit Kulturabo.

Dieses Ziel hat Ernaux mit ihrem eigenen Schreibstil, ihrer reduzierten und unsentimentalen Prosa auch tatsächlich erreicht: Ihre Texte lassen so viel Raum, dass sich nicht nur Menschen mit einem ähnlichen Schicksal darin wiederfinden, sondern auch solche, die weder Frau noch Arbeiterkind sind. Wie war das damals bei dir? Diese Frage drängt sich wohl jedem Lesenden auf. Das hängt unzweifelhaft damit zusammen, dass sie nicht ihr persönliches Ich in den Vordergrund oder gar zur Schau stellt, sondern eben den Abdruck der Welt in ihrem Leben beschreibt, also Prägungen, die so oder anders alle Menschen erleben. Die Lesenden lernen bei Ernaux nicht nur die Welt der Annie Ernaux kennen, sondern viel wichtiger: Sie bekommen Mittel an die Hand, das eigene Leben neu anzuschauen und zu verstehen.

Annie Ernaux, Der junge Mann, Suhrkamp, Berlin 2023, 48 Seiten,  15€.

Publik-Forum vom 27.1.2023