Allein gegen die unwirtliche Natur oder verbunden mit allem Leben? Die Robinson-Crusoe-Insel. Foto: Diego Sanchez Monroy, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70049716

Inselgeschichten

Der Mensch ist besser als sein Ruf – aber der schlechte Ruf kann Fakten schaffen. Warum unser Menschenbild entscheidend ist.

Was bleibt von der Menschlichkeit des Menschen noch, wenn eine Katastrophe ihn auf eine einsame Insel verschlägt? Allein auf sich selbst gestellt, in eine fremde Welt geworfen – da müsste sich doch etwas vom Kern des Menschseins zeigen. Die Versuchsanordnung ist jedenfalls so reizvoll, dass die Robinsonade ein eigenes literarisches Genre geworden ist. Ihr Namensgeber Robinson Crusoe aus dem Roman von Daniel Defoe von 1719 meistert die ihm gestellte Aufgabe: Er errichtet eine Hütte, eine Vorratshöhle und zählt an einem Stock die Tage seines Insellebens, er macht Land urbar, baut Getreide an und backt Brot, er töpfert Behälter, flicht Körbe und baut sich ein Kanu; kurz: er überlebt, indem er sich selbst, die Natur um ihn herum und später auch den Menschen, den er trifft, beherrscht und zivilisiert. Im Zeitalter der europäischen Expansion zeigt der Roman, dass jemand, der mit den Segnungen der westlichen Zivilisation großgeworden ist, ein so guter Mensch ist, dass er mit Disziplin, harter Arbeit und Optimismus auch in der Katastrophe bestehen kann.

Scheinbar im Gegensatz dazu steht eine andere Inselgeschichte: William Golding ließ 1954 in seinem Roman Herr der Fliegen eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Kindern nach einem Flugzeugabsturz auf der einsamen Insel stranden. Während die Jungen zu Beginn noch an Formen der gelernten demokratischen Ordnung festhalten, verwildern sie im Laufe der Zeit mehr und mehr, die Starken werden zu Anführern konkurrierender Gruppen, von denen eine Gefallen am Töten von Tieren und Menschen findet. Als sie gerettet werden, sind drei von ihnen tot und der vorbildliche Ralph, der stets versucht hat, das Chaos zu bannen, beweint „das Ende der Unschuld“ und die „Finsternis im Herzen der Menschen“. Golding selber bezeichnete seinen Roman als Versuch, „die Gebrechen der Gesellschaft auf die Gerbrechen der menschlichen Natur zurückzuführen.“ Unter der Zivilisation lauert die wilde Rohheit des Menschen, der rücksichtslose Kampf gegen die anderen.

Rufschädigung

Kommt in der Katastrophe, wenn die gewohnte Ordnung zusammenbricht, der fleißige Kolonisator oder die mörderische Horde zum Vorschein – welches Bild vom Menschen stimmt? Der Erfolg und die gefühlte Plausibilität von Herr der Fliegen hat nicht nur damit zu tun, dass der Zweite Weltkrieg beim Erscheinen des Buches erst neun Jahre zurück lag und damit die Gräuel, zu denen Menschen fähig sind, präsent waren. Das Buch schließt zudem an eine alte Tradition des neuzeitlichen Menschenbildes an, wonach der Mensch wie jedes Lebewesen nach Selbsterhaltung strebt und dieses Streben sich – wenn es nicht von starken Kräften eingehegt wird – im rohen Kampf aller gegen alle auslebt. Am wirkmächtigsten hat dieses Bild der englische Philosoph Thomas Hobbes, rund 70 Jahre vor dem Erscheinen von Robinson Crusoe, 1651 in seinem Leviathan ausformuliert: Im Naturzustand, den Hobbes nicht empirisch erkundete, sondern aus theoretischem Interesse entwarf, herrsche ein „Krieg aller gegen alle“; es gebe keine Gesetze und keine Ungerechtigkeit, sondern aufgrund seines Selbsterhaltungsstrebens habe jeder „ein Recht auf alles“. Aber die Vernunft fordere es, dieses individuelle Recht, das einen selbstzerstörerischen Zustand schaffe, einem Souverän zu übertragen. So wird bei Hobbes der starke Staat, dessen gesetztem Recht unbedingt zu folgen ist, zur notwendigen Instanz, um die vermeintlich natürliche, rohe Egozentrik der Menschen zu überwinden.

Es war zu Beginn der Neuzeit nicht nur Hobbes, der den Fähigkeiten der Menschen zum Guten nicht mehr traute; mit der späten Renaissance-Philosophie beispielsweise von Nicolo Machiavelli wird ein „realistisches“ Menschenbild zur Grundlage der politischen Theorie und der Geschichtsschreibung. Als Fürst solle man sich nicht mehr – wie im Mittelalter in hunderten Fürstenspiegeln gelehrt – an Idealen ausrichten, sondern lieber mit dem Eigennutz der Menschen rechnen. Mit dem Zerbrechen der religiösen Einheit Europas durch die Reformation und den folgenden Religionskriegen wird die pessimistische Sicht auf die Menschen weiter befeuert: Gerade weil die Menschen nach (religiösen) Idealen leben, werden sie zu erbitterten Feinden und zu Grausamkeiten fähig. Die protestantischen Reformatoren konstatieren genauso wie die katholische Reformbewegung der Jansenisten, dass der Mensch – anders als bisher geglaubt – aus sich heraus nicht zum Guten fähig, sondern von Grund auf böse sei. Im religiösen Bereich rette ihn allein die göttliche Gnade und im politischen Bereich das scharfe Schwert der Fürsten, das dem Bösen wehrt.

Der Philosoph und Historiker Franz Borkenau schrieb zu Beginn der 1930er-Jahre im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, der Heimstatt der Kritischen Theorie, die Studie Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, die heute zu Unrecht fast vergessen ist. Darin stellt er fest, dass die „Antinomie zwischen Trieb und Norm im Menschenleben“ das Kernstück der philosophischen Problematik in der frühen Neuzeit war. Der Mensch will nicht, was er soll; seine ihm eingeschriebenen Triebe führen nicht zum sozial erwünschten Ergebnis.

Hobbes, dem der Schrecken mehrerer englischer Bürgerkriege in den Knochen steckte, löste das Dilemma mit dem starken, konfessionsübergreifenden Staat, dem sich alle Bürger um ihres Friedens willen zu unterwerfen haben. Herrschaft führt zu Frieden. Dieses Erbe trägt noch der Roman von Daniel Defoe in sich, wenn Robinson – weder mit der Natur, noch mit dem Menschen, den er trifft, den Indigenen „Freitag“ – in Beziehungen eines gleichberechtigten Austauschs tritt, sondern in Herrschaftsbeziehungen. Zur Erinnerung: Robinsons Schiff gerät auf dem Weg nach Afrika in Seenot, wo er Sklaven für seine Plantagen in der neuen Welt kaufen will. Auch sich selbst muss er beherrschen und disziplinieren, um des Überlebens willen. So bleibt auch in der scheinbar optimistischen Geschichte des Robinson das pessimistische Menschenbild präsent.

Eine andere Möglichkeit, die egoistische und nach Selbsterhalt strebende Natur des Menschen sozial einzuhegen, wurde in der frühen Neuzeit im Markt gesehen. Der jansenistische Theologe Pierre Nicole setzte sich am Ende des 17. Jahrhunderts in seinen Moralischen Essays unter anderem mit der Frage auseinander, wie es möglich sei, dass Menschen, die aufgrund ihrer Selbstliebe im Kampf miteinander stünden, dennoch ein gutes gemeinsames Staatswesen bilden könnten. Seine Antwort ist die „aufgeklärte Selbstliebe“, die erkennt, dass das Eigene am besten verfolgt werden kann, wenn es auch dem anderen dient. So findet er knapp 100 Jahre vor Adam Smith zu einer Formulierung, die an den berühmten Metzger von Smith erinnert, der uns um seines Eigennutzes Willen zu Diensten ist: „Wenn wir durch das Land reisen, finden wir Männer, die bereit sind, denen zu dienen, die vorüberziehen und die fast überall Übernachtungsmöglichkeiten parat haben. Was wäre bewunderungswürdiger als diese Menschen, wenn sie aus Nächstenliebe handelten. Es ist aber die Gier, die sie so handeln lässt.“

Der Liberalismus sieht die Marktgesetze als eine – wahlweise göttliche oder natürliche – Ordnung, die das Selbsterhaltungsstreben der Menschen in sozial erwünschte Bahnen lenkt. Staat und Markt sind also zwei Antworten auf dasselbe Problem: die Beherrschung und Umlenkung der vermeintlich sozial schädlichen Triebe des Menschen. Bis in den jüngsten Neoliberalismus werden oft beide zugleich, Markt und Staat, dazu aufgerufen, den Menschen eine „Marktdisziplin“ beizubringen, die sie augenscheinlich nicht von Natur aus haben, die ihnen vielmehr anerzogen werden muss. Der Rechtfertigung dieser Erziehung dient auch das negative Bild des Menschen, wonach in der Krise der Kampf aller gegen alle zu befürchten sei.

Vielleicht ist es aber noch schlimmer, nämlich wie der niederländische Journalist und Historiker Rutger Bregman in seinem Bestseller Im Grunde gut mutmaßt: dass das negative Menschenbild eine self-fulfilling prophecy ist. Wenn eine Gesellschaft so eingerichtet ist, dass sie immerfort mit dem unsentimentalen Streben des Einzelnen nach seinem Vorteil rechnet, dann werden die Menschen erst zu dem zugerichtet, was sie vermeintlich von Natur aus sind. Wer in der Schule und in der Arbeitswelt zu Wettbewerb und dem Bestehen in der Konkurrenz erzogen wird, der wird seine zweifellos vorhandenen prosozialen Fähigkeiten nur schwach entwickeln.

Gegendarstellungen

In diesem Sinne ist der Film Triangel of Sadness von Ruben Östlund, der jüngst in Cannes die Goldene Palme gewonnen hat, eine interessante Variation von Goldings Herr der Fliegen. Dort sind es nicht unbescholtene Schuljungen, die auf einer Insel stranden, sondern die Gäste und Crew-Mitglieder einer Luxusyacht, die Superreiche spazieren fährt und auf der eine extrem robuste Klassengesellschaft sichtbar wird. Gestrandet auf der Insel drehen sich die Verhältnisse um und die philippinische „Toilettenmanagerin“ wird zur Anführerin, weil sie weiß, wie man Fische mit der Hand fängt und Feuer macht. Sie nutzt diese neue Rolle aus, um sich Privilegien zu sichern, die früher nur andere hatten. Sie zeigt damit aber nicht, wie Golding es in seinem Roman wollte, die „Natur“ des Menschen, sondern nur das Spiegelbild der kapitalistischen Klassengesellschaft, die sie und die anderen entsprechend zugerichtet hat.

Eine andere Gegendarstellung findet sich bei Rutger Bregman, der sich für seine neue Geschichte der Menschheit auf die Suche nach der wahren Begebenheit hinter Goldings Herr der Fliegen gemacht hat. Fündig geworden ist er in der Südsee: Im Jahr 1965 strandenten tatsächlich sechs Jungen aus Tonga im Alter zwischen 13 und 16 Jahren auf einer Insel, weil sie beim Angeln mit ihrem Boot abgetrieben waren. Gerettet wurden sie erst 15 Monate später. Der Fischer Peter Warner, der die Jungen gefunden hat und einen der ehemaligen Jugendlichen, Mano Totau, konnte Bregman interviewen. Warner berichtet von einer „kleinen Kommune“, die die Jungen geschaffen hätten, „mit einem Gemüsegarten, ausgehölten Baumstümpfen, um Wasser aufzufangen, einer Sportschule mit ungewöhnlichen Gewichten, einem Badmintonfeld, Hühnerställen und einer festen Feuerstelle.“ Die Kinder haben je paarweise gearbeitet nach einem strengen Zeitplan. Den Tag haben sie mit gemeinsamem Singen und Gebet begonnen und beschlossen; bei Streit haben die anderen die Streitenden getrennt und zum Entschuldigen aufgefordert. „So blieben wir Freunde“, erzählt Totau.

Welches Menschbild kultivieren wir?

Vom französischen Schriftsteller Patrick Chamoiseau, der aus der Karibik stammt, gibt es eine neue Robinsonade: In Die Spur des Anderen beschreibt er unter der Überschrift „Der Idiot“ – ähnlich wie im Original – das Kolonisierungswerk des Gestrandeten, dass im Verlauf des Romans aber abgelöst wird von einem neuen Verhältnis zu der ihn umgebenden Insel: Er lässt die Haustiere frei und die Äcker verwildern, er gibt seine Mission als „Zivilisator“ auf und wird zu einem „Teil unter vielen auf dieser Insel“: Chamoiseaus Robinson gewinnt den Eindruck, „dass ich ein Gewebe lebendiger Verbindungen war, die sich unablässig veränderten und gleichzeitig mich veränderten, indem sie mich zu einer lebendigen Person machten“.

Das Ich des Menschen entsteht aus dem Austausch mit der Natur und anderen Menschen; in der „idiotischen“, also von den anderen getrennten, Herrscherposition aber reduzieren Menschen ihr Leben. Chamoiseau will das Imaginäre der Menschen bereichern, damit sie ihre Idiotie nicht als Realität missverstehen. Die self-fulfilling prophecy wirkt wohl auch zum Guten: So wäre es wichtig, ein Menschenbild zu kultivieren, das den Menschen als Teil des Lebens sieht – und darauf aufbauend Möglichkeiten für freie Kooperationen zu schaffen. Dass Menschen aufeinander angewiesen sind, ist ebenso evident wie ihr Streben nach Selbsterhaltung. Eine Gesellschaft, die nur das eine als Realität annimmt, beraubt sich um viele Möglichkeiten des Menschseins.

agora42, Ausgabe 1 / 2023