Komplizierte Hieroglyphen, einfacher Ausgleich: Das Wiegen des Herzens im Altägyptischen Totengericht. Foto: The British Museum.

Gerechtigkeit ist nicht einfach…

… aber auch nicht so komplex wie viele behaupten.

Der Einkauf von Lebensmitteln, aber auch von vielen anderen alltäglichen Gütern, ist schon lange zu einer Frage der Moral geworden: Wen oder was unterstütze ich mit meinem Kauf? Fördere ich Massentierhaltung oder einen halbwegs verantwortlichen Umgang mit Tieren und Umwelt? Können diejenigen, die die Lebensmittel produzieren anständig davon leben? Oft höre ich die Stimmen derer, die die Marktmacht der Konsumenten beschwören: Ich könne mit meinem Einkauf die Welt zum Besseren verändern. Es fällt mir schwer, das zu glauben: Viele Produkte, die aus moralischen Erwägungen unterstützenswert wären wie Lebensmittel mit dem TransFair-Siegel sind nach wie vor Nischenprodukte: Bei der Wahl zwischen billig und fair siegt offensichtlich zu selten die Moral. Und von denen, die die Herausforderung des moralischen Konsums ernst nehmen, höre ich, dass sie sich überfordert fühlen angesichts der Fülle an möglichen Gewissensfragen und den realen Einkaufsmöglichkeiten vor Ort. Das kann ich gut nachvollziehen: Gibt es überhaupt fair gehandelte Schuhe? Welchem Siegel kann ich bei Bio-Baumwolle vertrauen? Muss ich faire Kleidung online bestellen, nehme dann aber die ökologisch wie sozial bedenkliche Paketzustellung in Kauf einschließlich der gegebenenfalls nötigen Retouren? Ärgerlich aber werde ich, wenn ich Entwicklungsminister Gerd Müller einmal mehr den fairen Handel loben höre: Wer Bananen für 89 Cent das Kilo kaufe, der müsse sich klarmachen, dass am Anfang der Lieferkette Lohnsklaven stünden.

Warum laden denn alle die moralischen Probleme, die der Kapitalismus verursacht auf mir und den anderen Kunden ab? Warum werden wir vor das moralische Dilemma zwischen billig und gerecht gestellt? Wäre es nicht Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass überhaupt nur Bananen in den Verkauf kommen, die zu fairen und ökologisch unbedenklichen Bedingungen hergestellt wurden? Kann man nicht die Regeln des Fairen Handels zum allgemeinen Gesetz machen, dass nur Bananen zum „gerechten Preis“ in den Handel kommen? Dann hätte sich die ganze Sache mit den Gewissensfragen beim Einkaufen erledigt und die Gerechtigkeit wäre keine Frage mehr der persönlichen Moralität oder des Distinktionsbedürfnisses – sondern eine Frage der Ordnung der Gesellschaft. Auch andere Eigenschaften von Produkten, die zum Beispiel Gesundheits- oder Sicherheitsfragen betreffen, werden doch durch Gesetze geregelt, warum bleibt der Preis davon ausgenommen?

Der Markt allein bewältige Komplexität

Wer diese Frage stellt, bekommt es mit einem mächtigen Glaubenssatz des kapitalistischen Wirtschaftens zu tun. Es gilt als Kernbestandteil, ja als unhintergehbare „Entdeckung“ des ökonomischen Liberalismus, dass das ungehinderte Spiel von Angebot und Nachfrage und die daraus sich ergebenden Preise die effektivste Form der Güterversorgung seien: Wenn Güter in einem Bereich knapp würden, also die Nachfrage das Angebot übersteige, stiegen die Preise. Das verlocke neue Anbieter dazu, dieses knapp werdende Gut herzustellen und zu verkaufen, da mit diesem Produkt ja ordentliche Gewinne zu erwarten seien. Wenn dann in der Folge das Angebot wieder die Nachfrage übersteige, fielen die Preise. Auf diese Weise balanciere sich immer Angebot und Nachfrage aus – und zwar auf dem bestmöglichen Preis für die Konsumenten. So seien die Wünsche aller berücksichtigt, ohne dass jemand planen eingreifen müsse.
Soweit die Idealvorstellung, die viele konkrete Bedingungen außer Acht lässt, vor allem die Tatsache, dass unterschiedlich mächtige Teilnehmer miteinander Geschäfte machen: Der Discounter kann als großer Nachfrager die Preise der Milchbauern drücken, ohne dass die problemlos andere Abnehmer finden. Vermieter in Großstädten können die Wohnungsnot zu steigenden Preisen ausnutzen, ohne das andere Anbieter kurzerhand das Wohnungsangebot vergrößern. Bei einer gewissen Sockelarbeitslosigkeit können Arbeitgeber Billigjobs ausweiten, ohne dass deswegen viele neue Arbeitsplätze entstehen, die die überzähligen Arbeitnehmer aufnehmen.

Deswegen ist man in den letzten Jahren dazu übergegangen, wieder Preise zu regulieren: Zum Beispiel den Preis für Arbeit mit einem Mindestlohn oder den Preis für Wohnungen in Ballungsräumen mit einer (allerdings völlig unzureichenden) Mietpreisbremse. Diese Versuche der Regulierung stehen aber immer unter einem enormen Rechtfertigungsdruck, denn seit dem weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus ab den siebziger Jahren hat sich der Glaube an den heißen Kern des ökonomischen Liberalismus wieder verbreitet. Nur wenn das freie Spiel von Angebot und Nachfrage die Preise bestimme, könne die Komplexität des Wirtschaftsgeschehens zum größtmöglichen Wohle aller gelenkt werden. Regulierungen würden dieses freie Spiel oft stören; Preisfestsetzungen es gar irreleiten. Solche Maßnahmen im Namen der Gerechtigkeit oder den Interessen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe würden immer an der Komplexität des Marktgeschehens scheitern; es käme zu Fehlanreizen und unerwünschten Nebenwirkungen. Am Ende gebe es weniger Wohlstand für alle.

Dieser Glaube fiel auch in Deutschland ab den achtziger Jahren auf fruchtbaren Boden – weil er hier keineswegs neu war. Schon die Ökonomen der Freiburger Schule, die oft als „Väter der Sozialen Marktwirtschaft“ apostrophiert werden, verstanden sich als Erneuerer des Liberalismus. Sie predigten den Markt als jeder Planung überlegenes Koordinationsinstrument und hatten vor allem in dem langjährigen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard einen starken Transmissionsriemen in die Politik.

Die Suche nach dem „gerechten Preis“

Nun ist es aber keineswegs so, dass erst die Väter des alten Liberalismus, allen voran Adam Smith, das „Gesetz von Angebot und Nachfrage“ entdeckt hätten. Es war den Menschen seit der Antike bekannt, dass bei knappem Angebot die Preise steigen. Nur sah man daran keine Entwicklung zu größtmöglichem Wohlstand, sondern im Gegenteil eine Gefahr für das Gemeinwesen. Der klassische Fall, an dem dies erfahren wurde, war nämlich die Hungersnot. Wenn das Getreide knapp wurde, stiegen die Preise. Allerdings sahen die Menschen in Antike und Mittelalter in diesem Zusammenhang kein Naturgesetz, sondern sie meinten, dass gewissenlose Menschen die Not ihrer Mitmenschen ausnutzten, um aus dem Elend der Hungernden Profit zu schlagen. Händler, die in der Hungersnot höhere Preise verlangten oder Menschen, die Getreide-Vorräte hielten, um sie in der Hungersnot teuer zu verkaufen, bescheinigte das Kirchenrecht, dass sie „schändlichen Gewinn“ anstrebten. Die Frage nach den Preisen war für die Menschen spätestens seit dem frühen Mittelalter eine Frage der Gerechtigkeit.

So kreiste denn auch alles ökonomische Nachdenken, das damals noch von Theologen und Juristen betrieben wurde, um die Frage nach dem „gerechten Preis“. In diesen Überlegungen kamen zwei unterschiedliche Stränge von Gerechtigkeits-Überlegungen zusammen: Zum einen ging es darum, dass Preis und Leistung einander entsprechen sollten. Dabei war allen Denkern klar, dass dieses Verhältnis nicht exakt bestimmbar war, sondern allenfalls näherungsweise: Verschiedene Faktoren, wie Arbeitskosten, Risiko oder auch Seltenheit einer Ware, durfte der Produzent oder Händler eines Gutes einrechnen in den Preis seiner Ware. Wenn aber der Preis für Getreide nur deswegen in die Höhe schnellte, weil es knapp war, nicht weil höher Produktions- oder Beschaffungskosten es verteuerten, dann sah man die geforderte Äquivalenz gestört. Dabei sahen die Denker früherer Zeiten sehr deutlich, dass sich Menschen mit unterschiedlicher Mächtigkeit gegenüberstanden. Der Bürger, der Getreide auf seinem Dachboden speicherte, konnte den Verkauf in Erwartung höhere Preise weiter herauszögern; die Verhungernden aber mussten heute satt werden und waren deswegen bereit überzogene Preise zu zahlen. Es ging also nicht nur darum, einer formalen Norm zu genügen (nämlich der Gleichwertigkeit von Ware und Preis), sondern es sollte ein Ausgleich hergestellt werden zwischen starken und verwundbaren Menschen; die Schwachen sollten durch Recht und Gesetz vor einer Übervorteilung geschützt werden.

Zum anderen ist es wohl bezeichnend, dass die Hungersnot oftmals der Hintergrund für die frühen rechtlichen Regelungen zum gerechten Preis ist. Es ging bei den Überlegungen zu gerechten Preisen immer auch um etwas, was wir heute Bedarfsgerechtigkeit nennen würden: Dass alle wenigstens mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden. Das, was man zum Leben braucht, muss für die Menschen erschwinglich sein.

Gefühlte Ungerechtigkeit

Beide Formen der Ungerechtigkeit, die die Lehre vom gerechten Preis adressiert hat – ein großes Ungleichgewicht zwischen Menschen und das Verlangen nach dem Lebensnotwendigen – sind im Laufe der Geschichte immer wieder als Probleme empfunden worden. Ich würde sagen, diese Formen der Ungerechtigkeit sind so grundlegend, dass Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Überzeugungen sie spontan als ungerecht empfinden. Bei mir war es die Ananas-Verkäuferin in Madurai in Südindien, wo ich Mitte der 90er Jahre ein Semester Theologie studiert habe. Vor dem Campus der Hochschule verkaufte sie Ananas auf einem Pritschenwagen. Als Student aus dem Westen hatte ich gelernt, dass man mir gegenüber „Touristenpreise“ verlangte, also habe ich die anfangs genannten Preise der Ananas-Verkäuferin immer noch um ein paar Rupien runtergehandelt. Als ich eines Abends spät zum Campus nach Hause kam, sah ich, dass die Frau auf einer Decke auf dem Boden unter ihrem Pritschenwagen schlief; sie lebte, wie damals viele Menschen in den indischen Städten, buchstäblich am Straßenrand. Ich habe mich geschämt, dass ich den Ananas-Preis immer runtergehandelt hatte. Fortan habe ich immer lächelnd den zuerst von ihr genannten Preis bezahlt, weil sie des Geldes doch so augenfällig mehr bedurfte als ich. Die große Ungleichheit, die ich erlebt habe – für mich ging es um Kleingeld, ihr fehlte es am Lebensnotwendigen – hat mich sehr berührt. Wenn man glaubt, dass Gerechtigkeit einer der Namen Gottes ist, dann kann man darin vielleicht eine spirituelle Erfahrung sehen.

Was tun? Wachstum oder gerechte Preise

Die Vertreter eines freien Marktes versprechen der Ananas-Verkäuferin, dass, wenn Nachfrage und Angebot frei walten, sich irgendwann die wirtschaftliche Lage in Indien dergestalt verbessert, dass auch einfache Verkäuferinnen höhere Einkommen erzielen. Dass kapitalistische Wirtschaftsformen in vielen Ländern auch zu einem steigenden Wohlstand für Arme geführt haben, ist nicht falsch. Allerdings wäre es zynisch, die Menschen, die heute unter Ungerechtigkeiten leiden auf Zustände zu vertrösten, die vielleicht ihre Kinder oder erst ihre Enkel erleben. Außerdem ist es nicht allein das freie Spiel von Angebot und Nachfrage, dass Wohlstand für alle hervorbringt. Die Ursachen für Wohlstandssteigerungen sind komplexer als diejenigen meinen, die nur dem Markt die Beherrschung von Komplexität zutrauen. Auch Ermächtigungen von Schwachen durch starke Gewerkschaften, die gute Preise für Arbeit erstreiten oder Regulierungen zum Schutz von schwachen Produzenten bis hin zu staatlich regulierten Preisen schaffen Wohlstand. So war das auch im Wirtschaftswunderland Deutschland.

Wenn man aber auf den Handel über Kontinentsgrenzen hinweg schaut, dann erscheint es besonders zynisch, hier auf Wachstum allein zu setzen. Zu lange schon arbeiten Menschen in der weiten Welt für uns als „Lohnsklaven“. Die Untersuchungen von Thomas Piketty und seiner Kolleginnen und Kollegen bei der World Income Database haben gezeigt, dass in der neoliberalen Ära ab den achtziger Jahren, als immer mehr Wirtschaftsbereiche und staatliche Vermögen für den freien Markt geöffnet wurden, die Ungleichheit weltweit zugenommen hat. Im unregulierten Kapitalismus gewinnen die Wohlhabenden deutlich mehr dazu als die Armen. Um dem entgegenzuwirken, wäre vieles nötig. Ein Schritt aber könnte es sein, höhere Mindestpreise, wie sie im Fairen Handel gezahlt werden, gesetzlich festzulegen. Der freie Markt würde damit nicht suspendiert, es würden aber neue Regeln gelten, unter denen Angebot und Nachfrage wirken. Dabei sollte das Konzept eines living income leitend sein; das heißt die Preise müssen so hoch kalkuliert sein, dass sie den Produzenten in ihren jeweiligen Gesellschaften ein lebenswürdiges Einkommen ermöglichen. Das ist mehr als nur das, was das Überleben sichert, sondern umfasst zum Beispiel auch die Möglichkeit zur Vorsorge für schlechte Zeiten. „Gerechte Preise“ greifen nicht totalitär in eine komplexe Welt ein, sondern ermöglichen einen bescheidenen Ausgleich allzu großer Ungerechtigkeiten: Wenn wir etwas mehr für Kaffee, Bananen oder Kleidung zahlen, wird es uns kaum Wohlstand kosten – aber andernorts lebenswichtig sein.

Inspiration. Zeitschrift für christliche Spiritualität 1 /2020