Kapitalismus als riskante Religion

Der Glaube an die Geldvermehrung verbaut die Zukunft. Kollektives Wirtschaften ist nötig.

Er passte nicht ganz rein in die Alkoholiker-Reha, denn sein Problem war nicht der Alkohol. Er war ein Zocker oder Spielsüchtiger, der außerdem bei Versandhäusern allerlei bestellt hatte, was er nicht bezahlen konnte. So war der arme Kerl hoch verschuldet und hatte einen Offenbarungseid leisten müssen. Aber er hatte sich ein sonniges Gemüt bewahrt und meinte: Seine Gläubiger hießen so, weil sie immer noch den Glauben hätten, dass bei ihm etwas zu holen sei.

In der Tat: In der deutschen Sprache unterscheidet sich der Gläubige nur durch einen Buchstaben vom Gläubiger; und auch der englische creditor kann seine Herkunft vom lateinischen credere (glauben) nicht verbergen. Viele ökonomische Begriffe haben in den semitischen und europäischen Sprachen dieselbe Wurzel wie religiöse Begriffe – wobei offen bleiben kann, was zuerst da war: Wurden ursprünglich ökonomische Begriffe im Feld der Religionen aufgegriffen oder war es umgekehrt? Der verschuldete Mann in der Alkoholiker-Reha hat mit seinem Sponti-Spruch den Nagel auf den Kopf getroffen: Die kapitalistische Wirtschaft erfordert Glauben; und zwar vom Gläubiger. Dabei sollte man freilich nicht zuerst an das geprellte Versandhaus denken, sondern eher an die Bank als professionellen Kreditgeber. Als Gläubiger glaubt die Bank an die Rückzahlungsfähigkeit des Kreditnehmers; also daran, dass sie die investierte Summe plus einen Gewinn (Zins, Dividende, Gewinnbeteiligung) wiederbekommt. Wenn die Bank nicht daran glauben würde, würde sie den Kredit nicht gewähren oder nicht in ein Geschäft investieren.

Das heißt aber, der Gläubiger glaubt auch – es mag ihm bewusst sein oder nicht – an das Wachstum der Wirtschaft; denn nur wenn die Wirtschaft wächst, können Kredite zurückgezahlt werden. Denn der Kredit, den eine Bank vergibt, ist nicht – wie viele glauben – das Verschieben einer Einlage von einer Sparerin zu einem Kreditnehmer. Die Bank vergrößert mit einem Kredit die vorhandene Geldmenge: Die Sparerin behält den vollen Anspruch auf ihr Erspartes und zusätzlich hat ein Kreditnehmer, sagen wir: ein Zimmermann, nun Geld, mit dem er einen neuen Lieferwagen kaufen kann. Das Geld existiert nicht nur in Form der Schulden des Zimmermanns, sondern es erscheint auch als Plus auf dem Konto des Lieferwagenverkäufers; das heißt, es ist als zusätz‧liches Geld in der Welt.

Außerdem kann die Bank insgesamt mehr Kredit gewähren, als Sparer zuvor eingelegt haben. Technisch formuliert: Die Geldschöpfungsfähigkeit der Banken ist nicht durch die Höhe der Einlagen begrenzt. Aber riecht es nicht nach Inflation, wenn durch die Kreditvergabe mit einem Mal mehr Geld im Umlauf ist? Nein. Denn der Kredit soll ja zurückgezahlt werden. Das macht der Zimmermann aber nicht dadurch, dass er den Kauf des Lieferwagens rückabwickelt, das wäre absurd, sondern dadurch, dass er Dachstühle baut. Das heißt, die in der Zukunft gebauten Dachstühle sind die Wertdeckung für das im Kredit bereits geschaffene Geld. Der Kredit wird durch zukünftige Arbeit und Erlöse gedeckt. Ausgegeben wird er jetzt schon im Vertrauen darauf, dass der Zimmermann in den nächsten Jahren genug Aufträge haben wird.

Der wahre Konkurrent der Religionen

Die Kreditfunktion ist ein Segen für den Zimmermann, der jetzt schon Lieferwagen, Werkzeug und was immer er brauchen mag, kaufen kann. Der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck hat das einmal so formuliert: »Kapitalismus ist dynamischer als andere Wirtschaftssysteme, weil er Wege gefunden hat, Versprechen und Erwartungen in gegenwärtige handelbare Ressourcen zu verwandeln. Dies erlaubt der Wirtschaft zu jedem Zeitpunkt, mehr zu investieren und zu konsumieren, als sie bisher produziert hat.«

Das ist die Transzendenzerfahrung des Kapitalismus. Transzendenz heißt Überschreitung – im religiösen Kontext meinen wir eine Überschreitung der dem Menschen eigenen Grenzen von Raum und Zeit hin auf eine andere Wirklichkeit. Im Kredit werden die Grenzen von Raum und Zeit überschritten: Der Kreditnehmer kann jetzt schon über Werte aus der Zukunft verfügen, er ist nicht an das gebunden, was die materiellen Bedingungen vor Ort in seiner Gegenwart ermöglichen. Dieses Überschreiten (Transzendieren) klappt und macht den Kapitalismus attraktiv; es klappt oft viel besser und handgreiflicher als die Transzendenzerfahrungen, die die herkömmlichen Religionen versprechen.

Im Mittelalter hat man diese Konkurrenz noch deutlich empfunden: »Der Investitionskredit ist eine kulturelle Erfindung, die in ihrer Wirkung unvergleichlich ist. Kein anderer menschlicher Einfall hat die Welt so geformt, verändert und auch zerstört«, meint die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann. Was uns selbstverständlich ist, war für die Menschen im Mittelalter, als die ersten Unternehmen anfingen, auf Kreditbasis zu operieren, gegen Glauben und Vernunft: »Der Wucherer handelt dem allgemeinen Naturgesetz zuwider, denn er verkauft die Zeit, die allen Geschöpfen gemeinsam ist«, schrieb der Pariser Theologe Wilhelm von Auxerre im 13. Jahrhundert. Und weiter: »Augustinus sagt […], dass jedes Geschöpf sich selbst hingeben muss; die Sonne muss sich hingeben, damit es hell werde; ebenso muss die Erde alles hingeben, was sie erzeugen kann, ebenso das Wasser. Doch nichts gibt sich selbst auf naturgemäßere Weise hin als die Zeit; wohl oder übel haben die Dinge Zeit. Da also der Wucherer verkauft, was notwendig allen Geschöpfen gehört, schädigt er alle Geschöpfe im Allgemeinen.«

Die verkaufte Lebenszeit

Der Wucherer, über den der Theologe schimpft, war derjenige, der einen Kredit auf Zins vergab. Zins war zwar verboten, wurde aber dennoch oftmals gefordert. Hinter Wilhelm von Auxerres Verurteilung des Wucherers steht die Annahme, dass der Zins eine Bepreisung der Zeit sei. Wie sonst könne der Wucherer mehr Geld zurückverlangen, als er gegeben habe? Der Wucherer verkaufe, so der Vorwurf, die Zeit. Das mutet uns heute grotesk an, aber mit der Verbindung von Geld und Zeit hatte der scholastische Theologe eine sehr gute Intuition; nur ist es genau anders herum: Nicht der Kreditgeber verkauft Zeit, sondern der Kreditnehmer, der das Geld nimmt, verkauft quasi seine Zeit an den Kreditgeber, denn er lässt seine Zukunft festlegen auf die Notwendigkeit der Geldrückzahlung; er kann in der kommenden Zeit nicht mehr machen, was er will, sondern er muss, wie es sinnfällig heißt, den Kredit »bedienen«, sonst landet er im Schuldenturm. Umgekehrt gesagt: Der Kreditgeber sichert sich im Kredit Anteile an den Erlösen künftiger Arbeit, er kauft sich Zukunft.

Zu dieser Provokation des Kredites kam hinzu, dass die Zukunft ungewiss ist: Für die mittelalterlichen Theologen war klar, dass die Zeit Gott gehöre. Die Zukunft galt als »Gottes Land«, das für die Menschen unverfügbar war und auch unverfügbar bleiben sollte. Selbst die kapitalistische Transzendenzerfahrung kann die Unverfügbarkeit von Zeit nicht überwinden; sie kann nur die Last der unsicheren Zukunft verteilen: Bei vielen Kreditformen trägt der Kreditnehmer das größere oder alleinige Risiko für den Fall, dass die Investition scheitert. Banken sichern ihre Kredite oft durch Bürgschaften oder Eigentum ab, das im Ernstfall gepfändet werden kann.

Das heißt: Die gegenwärtige Realisierung künftiger Möglichkeiten ist mit Risiken verbunden und bedeutet immer auch eine Aneignung von Zukünften anderer Menschen. Denn im Kapitalismus hat das Geld, das als Kapital eingesetzt wird, meist private Eigentümer. Deswegen wird auch die Zukunft, die das Geld schafft, mit privaten Ansprüchen belastet. Zeit wird privat angeeignet.

Zukunft gemeinsam bewirtschaften

Spannend ist es nun – und das reicht weit in die Moderne hinein –, wen Wilhelm von Auxerre als Zeitbesitzer ansieht: Der Verkauf der Zeit ist für ihn deswegen unstatthaft, weil die Zeit allen Lebewesen gehört. Vermutlich war für Auxerre die Ansicht, dass die Zeit Gott gehört, identisch mit der Feststellung, dass die Zeit allen Lebewesen gemeinsam gehört, weil Gott die Zeit freigiebig allen Lebewesen zuteilt. Hier wird die Logik der alten Religion in Europa vor dem Kapitalismus deutlich: Weil etwas Gott gehört, ist es der privaten Aneignung entzogen und darf von allen Geschöpfen Gottes, nicht nur den Menschen, genutzt werden. Die Zukunft ist eine Allmende, etwas, das allen gemeinsam zur Nutzung zur Verfügung steht, oder, wie man heute sagt: Commons. Die Zukunft als Commons wiederzuentdecken wäre eine echte Herausforderung an die kapitalistische Religion und vielleicht schon ein wesentlicher Schritt zu ihrer Überwindung.

Wenn die Zukunft eine Allmende ist, dann müsste auch das Geld, das die Zukunft prägt, als Allmende zur Verfügung stehen. Könnte es gelingen, das ermöglichende Potenzial des Kredits zu erhalten und seine Risiken und Nebenwirkungen zu minimieren? Könnten öffentliche Banken ein Anfang sein, das System zu verändern? Wäre es denkbar, dass Unternehmen, die Kredite brauchen, diese dort bekommen – und zwar erst einmal zinsfrei? Zinsen fallen erst an, wenn die Investition geglückt ist und der Betrieb ordentlich Gewinne verbucht. Man könnte dann auch von einer Gewinnbeteiligung der Bank sprechen oder man regelt die Gewinnabschöpfung über Steuern. Im Falle guter Geschäfte kann der Betrieb, der einen Kredit bekommen hat, an die Bank also mehr zurückgeben, als er bekommen hat, weil die Bank mit diesen Einnahmen ja ein gewisses Ausfallrisiko begleichen, aber als öffentliche Bank keine Gewinne erwirtschaften muss. Wessen Investition scheitert, der müsste solidarisch aufgefangen werden.

Das Ziel wäre so etwas wie eine Kapital-Allmende; also Kapital als Gemeingut, das diejenigen sich nehmen dürfen, die damit etwas im Sinne des Gemeinwohls Vernünftiges anfangen. Es wird umgekehrt denen mittels Steuern entzogen, die davon so viel haben, dass sie es privat investieren könnten. Kapital wäre dann nicht mehr Mittel zur privaten Bereicherung, sondern nur noch Möglichmacher für Neues, das von öffentlichen Banken nicht nur nach Effizienzgesichtspunkten vergeben wird, sondern auch nach Kriterien des Gemeinwohls.

Wachstum reduzieren

Es gibt aber noch ein Problem neben der privaten Aneignung von Zukunft: Der kapitalistische Glaube an eine fortwährende Vermehrung des Geldes verliert heute immer mehr an Glaubwürdigkeit, weil es immer klarer wird, das unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist. Der Glaube des Kreditgebers geht auf ein immerwährendes Wachstum zurück, da der rückgezahlte Kredit oder der Gewinn der Aktien das Geld für die nächste Investition ist. Aufgrund des Vorgriffs in die Zukunft kann der Kapitalismus nicht nicht wachsen. Das heißt, in einem mehr oder weniger öffentlichen Bankensystem könnten die Kredite nicht nur nach Gemeinwohl-Gesichtspunkten vergeben werden, es sollte auch die Menge des Geldes besser kontrolliert und damit ein wesentlicher Wachstumszwang reduziert werden. Hier ist die Idee eines Vollgeldes, wie es zum Beispiel der Verein Monetative vertritt, weiterführend: Danach soll nur die Zentralbank neues Geld schaffen, nicht mehr die privaten Banken. So wäre die Geldmenge öffentlich kontrollierbar. Wenn Kredite sparsamer ausgegeben werden, muss das bisher Erwirtschaftete gleichmäßiger verteilt werden. Bisher wird die soziale Frage aus dem permanenten Wachstum gelöst: Wenn alle dazuverdienen, fällt auch etwas für die Ärmeren ab. Darauf könnte man nicht mehr setzen; man müsste energischer über Verteilung reden.

Wenn der Glaube an das immerwährende Wachstum bröckelt, ist das eine Chance für Alternativen: Ein bisschen Transzendenz, ein bisschen Selbstüberschreitung in die Zukunft sollten wir Menschen uns schon erlauben, denn ohne Sehnsucht und Dynamik kann das Leben langweilig werden. Aber die Vorgriffe auf die Zukunft sollten die Zukunft als Gemeingut (Commons) respektieren und die Erde als begrenzten Planeten. Die gegenwärtige Menge an privatem Kapital, das investiert werden will, werden wir uns um der Zukunft willen nicht leisten können. Der Erfolg der kapitalistischen Religion ist zugleich ihr größtes Risiko. Wenn die Kirchen ihren wahren Konkurrenten erkennen, den Meister der Transzendenz, dann sollten sie zu Anwälten der Endlichkeit werden.

Publik-Forum vom 15.01.2021