Sind Menschen rationale Egoisten – oder sind sie Teil von symbiotischen Lebensgemeinschaften? Damit Menschen ihre kooperativen Potenziale entfalten, braucht es andere Institutionen.
Chicago zwei Tage ohne Strom, das will Milton Torres nicht erleben. »Da sind zu viele Menschen, zu viele Waffen und nicht genug zu essen.« Es würde Chaos ausbrechen, ist Torres überzeugt, denn: »Am Ende werden nur die Stärksten überleben. Denn wenn du Hunger hast, tust du alles, was du tun musst.« Deswegen hat der Militärveteran Torres seine Arbeitsstelle aufgegeben und sich einen alten Militärbunker gekauft; dort will er sicher sein. Wie längliche Betoniglus stehen die ehemaligen Militärlager in der Einöde von South Dakota. Torres ist einer der Protagonisten in dem hervorragenden Dokumentarfilm »Das Ende der Welt, wie wir sie kennen« von Julia Neuhaus, der noch bis Ende Mai in der ARD-Mediathek zu sehen ist.
Dass die Zivilisation nur ein dünner Lack ist über einer bestialischen Animalität des Menschen, die in Gefahren unvermittelt hervorbrechen kann – das ist nicht nur ein Thema, das in populären Büchern und Filmen immer wieder in Szene gesetzt wurde. Es ist tatsächlich auch das Menschenbild, das die moderne Kultur und ihre Institutionen prägt. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) stellte sich den Naturzustand des Menschen als einen Krieg aller gegen alle vor, in dem jeder nur von seinem Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Um diesen Trieb der Menschen einzudämmen, brauche es einen starken Staat, den Leviathan, der das Zusammenleben auf einer friedlichen, nämlich vertraglichen Form regelt und so die legitimen Ansprüche der Menschen gegeneinander schützt. Hobbes’ Sicht des Menschen nährte sich aus den Erfahrungen zahlloser Bürgerkriege in Europa entlang der Konfessionsgrenzen und traf eine weit verbreitete Zeitstimmung: Die Fähigkeit des Menschen zum Bösen muss in Schach gehalten werden, entweder durch einen starken Staat oder, etwas später, durch einen Markt, der das Selbsterhaltungsstreben der Menschen in sozial vorteilhafte Bahnen lenkt, und durch Menschenrechte, die die Ansprüche der einzelnen Menschen gegeneinander sichern.
Auch wenn eine solche pessimistische Vorstellung vom Menschen in (Nach-)Kriegszeiten blüht, so gibt sie doch nur einen Teil der Erfahrungen im Krieg wieder. Der bringt nämlich nicht nur unvorstellbare Brutalität hervor, wie jetzt wieder im Ukrainekrieg zu sehen ist, sondern auch eine in Friedenszeiten ungewöhnliche Solidarität und Aufopferung für ein gemeinsames Ziel: Wenn in Notzeiten die normale Ordnung zerbricht, greifen die Menschen nicht automatisch zu den Waffen, um sich das letzte Essen zu sichern, sondern wachsen nicht selten als Gemeinschaft zusammen, wie man es jetzt aus belagerten ukrainischen Städten hört oder bei der selbstlosen Hilfe für Geflüchtete.
Der niederländische Journalist Rutger Bregman hat in seinem Bestseller »Im Grunde gut« (Rowohlt 2020) viele Beispiele von sozialem Verhalten in Kriegs- und anderen Notzeiten gesammelt. Dabei ist Bregman nicht naiv oder blind gegenüber Machtmissbrauch und Gewalt. Aber seine bedenkenswerte These ist, dass das pessimistische Menschenbild nicht selten als »self-fulfilling prophecy« wirke, als sich selbst bestätigende Annahme: Wenn alle glauben, dass es zum Kampf ums Essen kommt, ist es sehr rational, sich mit Vorräten einzubunkern und zu bewaffnen. Im Dokumentarfilm über das Ende der Welt kauft Milton Torres eine Pistole und ist begeistert über die neue Visiertechnik, aber das Töten als Soldat verabscheut er, und er hat schon Schwierigkeiten, die Mäuse im Bunker zu töten. Er glaubt wohl – gegen seine Neigung – aus Vernunft bewaffnet sein zu müssen.
Kooperation steckt in den Genen
Und wenn die Rationalität, dass jeder Mensch zum Wolf des anderen Menschen mutieren kann, in den Institutionen der Gesellschaft verankert ist, dann ist der Effekt der sich selbst bestätigenden Vorhersage wohl noch größer: Die Menschen werden sich egoistisch und unsozial verhalten, wenn dies die Strukturen der Gesellschaft von ihnen erwarten. Jeder besteht auf seinem Recht, weil es doch alle anderen auch tun, Erfolg in der Konkurrenz wird belohnt, Kinder werden – trotz anderslautender pädagogischer Ansätze – durch das Notensystem auf die Konkurrenz im Leben vorbereitet. Dies alles ist rational, aber es fördert kein kooperatives Verhalten. Vielleicht käme es heute nicht so sehr darauf an, durch kluge Institutionen die Bosheit der Menschen in Schach zu halten, sondern vielmehr zu fragen, wie Lebenswelten beschaffen sein müssen, dass sich die menschlichen Fähigkeiten zu Güte und Kooperation entfalten können.
Im Film gerät Milton Torres ins Zweifeln, als eine Bewohnerin des nahen Städtchens Edgemont ihm sagt, dass er mit seinem Bunkerkauf »verarscht« worden sei: Für 25 000 Dollar hätte er auch ein richtiges Haus in dem 800-Seelen-Ort kaufen können. »Du schottest dich ab, aber wir sind eine Familie.« Dass jeder für den anderen einstehe in dem kleinen Städtchen, das würde in einer Katastrophe helfen, zeigt sich die Frau überzeugt. Torres Bunker hält nicht einmal den Mäusen stand; und als er deren Schäden beseitigt, stellt er fest, dass es gut wäre, diese Arbeit nicht allein tun zu müssen. Der Gedanke, dass Menschen in Gemeinschaften zusammenhalten, wird im Film von der Physikerin und Ökonomin Julia Steinberger aufgenommen. Die Professorin ist eine der Autorinnen des Sechsten Weltklimaberichtes und beschäftigt sich mit zukunftsfähigen Energie- und Sozialmodellen. »Wir überleben, weil andere sich um uns kümmern«, sagt sie. Jedes Kind, das geboren werde und heranwachse, habe Menschen, »die es ins Leben lieben«. Die Hauptaufgabe der Menschen sei es, sich umeinander zu kümmern. »Darin sind wir gut«, erklärt Steinberger, während man sieht, wie sie ein Stofftier ihres Kindes flickt, »aber das Bewusstsein wurde uns genommen, weil wir diese Ideologie haben, dass Egoismus wichtig ist und Menschen in Konkurrenz zueinander leben müssen.« In der Biologie gebe es aber beides: Wettbewerb und Kooperation.
In der Tat: Seit Charles Darwin (1809-1882) die Formel vom Überleben der Stärksten populär gemacht hat, hat sich viel getan: Es weisen nicht nur viele Forschungen darauf hin, dass auch Kooperation ein Evolutionsvorteil sein kann. Selbst die grundlegende Annahme, dass individuelle Arten in der Evolution siegen oder untergehen, wird infrage gestellt: Unter Tieren und Pflanzen habe es niemals Individuen gegeben, schreiben die Naturwissenschaftler Scott Gilbert, Jan Sapp und Alfred Tauber. Sie kommen zu dem Schluss: »Wir sind alle Flechten«, also symbiotische Lebensgemeinschaften, die nur aufgrund der Kooperation verschiedener Arten lebensfähig sind.
Auch wir Menschen? Hat nicht ein Zeitgenosse von Thomas Hobbes, der französische Philosoph René Descartes (1596-1650), zu Beginn der Neuzeit klargestellt, dass der Mensch vom Tier gerade dadurch unterschieden sei, dass er Geist und Sprache habe? Und dass der Geist jedes Menschen, anders als sein Körper, individuus, also unteilbar sei?
Geist ist nichts Individuelles
Dass es mit der Vorstellung einer menschlichen Individualität, also einer unteilbaren Einheit, die einer Welt von Dingen klar abgegrenzt gegenüberstehe, nicht weit her ist, zeigt ein Blick in den menschlichen Darm: Der wird bekanntlich von zahlreichen Bakterien und Pilzen besiedelt, dem sogenannten Mikrobiom, das zwar durch eine Gelschicht auf Abstand zum Körper gehalten wird, aber andererseits essenziell notwendig ist für den menschlichen Stoffwechsel. Veränderungen am Mikrobiom können ernsthafte Krankheiten verursachen. Die Menschen sind also auf die Lebensgemeinschaft mit den vielen kleinen Lebewesen im Darm und andernorts im menschlichen Körper angewiesen. Und auch der Geist, das vermeintlich Einzigartige des Menschen, ist ein viel zu dünnes Eis, um darauf menschliche Individualität zu gründen. Vom Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs stammt die schöne These, dass das Gehirn des Menschen ein Beziehungsorgan sei. Nicht ein einzelnes Genie entwickelt etwas in seinem Hirn, sondern so, wie der Darm die Mikroben braucht, so braucht der Geist des Menschen den Austausch mit anderen körperlichen und geistigen Lebewesen: Geist ist nichts Individuelles, sondern etwas Interpersonelles; Geist ereignet sich zwischen Menschen. Jeder Mensch ist in einem geistig-körperlichen Stoffwechsel mit anderen Lebewesen verbunden und kann ohne diese nicht sein.
Wenn der Mensch nun ein Lebewesen ist, dessen Grenzen zur Außenwelt fließend sind, ein Wesen, das nicht nur Anlagen für eine soziale Existenz mitbringt, sondern immer schon mit anderen verbunden ist, dann erscheint es widersinnig beziehungsweise un-menschlich, die einzelnen Menschen mit ihren Ansprüchen voneinander abzugrenzen und die Natur ohne jede Ansprüche an den Menschen auszugrenzen, wie es die rechtliche Verfassung moderner Gesellschaften vorsieht. Es kommt doch auf die glückenden Verbindungen zwischen Menschen und mit anderen Lebewesen an. Darin liegt das Leben. Eine Politik, die die Freiheit eines vermeintlichen Individuums sichern will, bleibt zwar wichtig, um die Zumutungen der Gemeinschaft an die Einzelnen abzuwehren, aber sie greift für ein glückliches Leben zu kurz.
Kooperation muss gefördert werden
Milieu nennt die französische Philosophin Corine Pelluchon das Beziehungsgefüge, das Menschen untereinander und mit der Natur verbindet. Im Milieu kommen kulturelle und natürliche Faktoren zusammen, eine Trennung zwischen beidem ist nicht sinnvoll. Ein Milieu kann günstig oder ungünstig sein für die Verbindungen der Lebewesen, kann die sozialen Anlagen des Menschen zum Blühen bringen oder verdorren lassen. Eine Pointe in Pelluchons Buch »Wovon wir leben« (wbg Academic 2020) ist, dass der Mensch nicht, wie der Philosoph Martin Heidegger meinte, als Einzelner in die Welt geworfen sei, sondern sich immer schon in einer Welt vorfindet, die ihn nährt. Die Menschen leben von der Welt und können dann auch wiederum für die Welt leben, damit das Milieu weiter als ein nährendes für alle erhalten bleibt. Pelluchon ist überhaupt nicht religiös gestimmt, aber wer möchte, kann in der »Welt, die uns bei unserer Geburt empfängt« und nährt, die Gnade Gottes entdecken, die um Gottes und der Menschen willen dann auch für alle als gnädig erhalten bleiben muss.
Pelluchon will deswegen die Demokratie um deliberative und partizipative Elemente ergänzen. Das heißt, es soll in freier Beratung möglichst allein aufgrund des »zwanglosen Zwangs des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) entschieden werden: Bürgerräte, die von Expertinnen informiert werden, scheinen ihr ein deutlich kooperativeres und an Sachfragen orientierteres Modell der Entscheidungsfindung zu sein als die gegenwärtige Praxis der Parteienkonkurrenz, in der sich die stärkste Partei durchsetzt. Um die Natur in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, schlägt sie eine »dritte Kammer« vor neben Bundestag und Bundesrat, in dem Wissenschaftler für die Interessen der Natur einstehen und Gesetze ablehnen können, die in den anderen beiden Kammern der Legislative geplant worden sind.
Aus dem klassischen liberalen Baukasten gilt es, all das zu bewahren, was Macht erfolgreich eingrenzt. Rutger Bregman hat darauf hingewiesen, dass Machtkonzentration etwas ist, was die sozialen Anlagen des Menschen stark korrumpiert. Es gilt also weniger, die vermeintliche Bosheit der Menschen in Schach zu halten, als vielmehr, Einzelne zu bewahren, sich durch zu viel Macht von ihren Mitlebewesen zu entfremden. Milton Torres gibt am Schluss des Films »Das Ende der Welt, wie wir sie kennen« seinen Bunker auf und zieht zu seiner Freundin. Er resümiert: »Wenn du einen Bunker hast mit niemandem, was hast du dann? Einen Bunker mit niemandem.« Kein gutes Milieu für einen Menschen.
Publik-Forum vom 29.4.2022