Kirsten Fehrs und Johannes-Wilhelm Rörig - bald nicht mehr zusammen bei der Aufarbeitung? Fotos: Carsten Möller und Christine Fenzl

Evangelische Kirche unterläuft Standards zur Aufarbeitung

Aufarbeitung mit staatlichem Gütesiegel: Ende April hat der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauches, Johannes-Wilhelm Rörig, eine Erklärung mit der katholischen Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht über verbindliche Standards zur Aufarbeitung von Missbrauch. Kernstück der Erklärung ist die Schaffung von Aufarbeitungskommissionen in jeder Diözese, in denen Missbrauchsbetroffene mit Fachleuten und Bistumsmitarbeitern zusammenarbeiten und den Prozess der Aufarbeitung von Missbrauch steuern sollen. Eine ähnliche Vereinbarung würde Rörig auch gerne mit der evangelischen Kirche abschließen, aber die scheint andere Pläne zu haben.

„Bei den verbindlichen Strukturen sprechen wir über verbindliche, einheitliche Strukturen für eine unabhängige Aufarbeitung, entweder auf der Ebene der Landeskirchen oder in regionalen Verbünden“,

so berichtete der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauches, Johannes-Wilhelm Rörig, im letzten November vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von den Gesprächen mit EKD-Vertretern.

„Die unabhängigen Kommissionen sollten die Aufarbeitung fest in die Hand nehmen, die einzelnen Schritte und Entscheidungen steuern sowie Transparenz und Öffentlichkeit sicherstellen.“

Genau diese Aufarbeitungsforen aber will die EKD derzeit nicht. Bischöfin Kirsten Fehrs, Sprecherin des Beauftragtenrates zum Schutz gegen sexualisierte Gewalt in der EKD, erklärt dazu im Gespräch mit dem WDR:

„Dass wir in 20 Gliedkirchen jeweils Aufarbeitungskommissionen einrichten, in der Gestalt wie es jetzt zum Beispiel die katholische Kirche zugesagt hat für 27 Diözesen; das konnten wir so erstmal nicht zusichern.“

Und Fehrs fügt hinzu:

„Aber das ist auch kein neuer Stand, das haben wir auch schon im September so deutlich gemacht, dass das für uns wenig sinnhaft ist.“

Im September trafen sich zum bisher letzten Mal offiziell Mitglieder des EKD-Beauftragtenrates mit der Arbeitsgruppe Kirchen beim Unabhängigen Beauftragten. Zwei Monate später auf der Synode warb Rörig dennoch für die Kommissionen:

„Unser Angebot liegt dem Beauftragtenrat auf dem Tisch.“

Da scheint es immer noch zu liegen oder schon weitergewandert zu sein in die Schubladen darunter. Die EKD setzt derweil für die institutionelle Aufarbeitung von Missbrauch auf eine große wissenschaftliche Studie mit einigen Regionalstudien; dort sollen auch Betroffene eingebunden werden. Kerstin Claus, die als Jugendliche von einem evangelischen Pfarrer sexualisierte Gewalt erlitten hat, arbeitet zwar mit in der Auswahlkommission zu den EKD-Studien, sie weist aber auch auf deren Grenzen hin:

„Forschung ist wichtig und wesentlich, aber Forschung ersetzt nicht Aufarbeitung. Das, was gemacht wird, ist in bestimmten Ausschnitten auf bestimmte Faktoren zu schauen und auszuwerten und irgendwann in drei Jahren vorzulegen. Das hilft aber Betroffenen, die, sage ich mal, im Verlauf der letzten sechs Monate sich an die Landeskirche in Sachsen gewandt haben mit akuten Vorfällen und der Bitte um Aufarbeitung überhaupt nicht, weil das dann grad nicht der Fokus der Studie ist und der schon woanders liegt und nicht der komplette Bereich der EKD abgedeckt werden kann.“

Deswegen meint Claus, dass Aufarbeitungskommissionen neben der wissenschaftlichen Studie notwendig seien: Dort könnten sich Betroffene melden und die Kommissionen könnten dann untersuchen lassen, warum es in den konkreten Fällen zu Missbrauch gekommen sei. Bischöfin Fehrs pflichtet bei, dass Studien noch keine Aufarbeitung seien. Zuerst kämen für die EKD aber die wissenschaftlichen Studien:

„Wir müssen uns in der Einrichtung von Aufarbeitungskommissionen sehr stark erstmal danach richten, was auch von den Studien her vorgegeben, als Design sinnvoll anerkannt wird, und was auch im Ergebnis von den Studien in weiterer Zukunft sinnvoll ist einzurichten.“

Geldzahlungen ohne Betroffene festzurren

Im Modell, auf das sich die katholische Kirche mit Johannes-Wilhelm Rörig geeinigt hat, sind Betroffenenvertreter in den Aufarbeitungskommissionen und auch in Beiräten für jedes der 27 Bistümer geplant. Die EKD will lediglich einen einzigen Betroffenenbeirat auf Bundesebene. Im Herbst hat der Rat der EKD eine Gewaltschutzrichtlinie verabschiedet, die den Landeskirchen als Modell ihrer Arbeit dienen soll. Eine verbindliche Betroffenenbeteiligung ist dort nicht geregelt.
Johannes-Wilhelm Rörig hatte bei der EKD-Synode noch ein Thema auf dem Zettel: Geldleistungen!

„Auch werden wir über Aspekte der Anerkennung und – ich nutze dieses Wort einmal – Entschädigung sprechen.“

Treffen der EKD mit der Rörig-Arbeitsgruppe blieben seit Herbst aus, dafür informierte Kirsten Fehrs vor zwei Wochen, dass die Landeskirchen sich verabredet hätte, ein System individueller Anerkennungszahlungen EKD-weit zu vereinheitlichen. Kerstin Claus kritisiert individuelle Leistungen, weil sie diejenigen Betroffenen bevorzuge, die besser verhandeln könnten. Vor allem aber vermisst sie eine strukturierte Beteiligung von Betroffenen:

„Das ist doch absurd“, so Claus, „die EKD ruft einen Betroffenenbeirat ins Leben, der im Juli diesen Jahres starten soll und all diese Entscheidungen werden jetzt schon vorweg strukturiert: Wir bleiben beim System der individuellen Entschädigung. Wo ist der Diskurs mit den Betroffenen und wo findet man gemeinsame Linien, mit denen dann auch Betroffene sich einverstanden erklären können?“

Bleibt die Frage, ob der Beauftragte der Bunderegierung mit der evangelischen Kirche überhaupt noch weiter über verbindlichen Standards zur Aufarbeitung verhandeln will, wenn die EKD erkennbar eine andere Richtung einschlägt als die, die ihm vorschwebt. In den letzten Tagen wollte Rörig zum Stand der Gespräche keine Stellung beziehen. Ein Hinweis könnte aber seine Ungeduld bei der EKD-Synode im vergangenen Herbst sein:

„Ich wäre froh, wenn wir bis Anfang des Jahres 2020 Klarheit hätten, ob eine Vereinbarung zustande kommt.“

WDR 5 / Diesseits von Eden am 24.5.2020

Nachtrag: Am 23.6. veröffentlichte die EKD einen Letter of Intend an den Unabhängigen Bauftragten der Bundesregierug zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Daraus geht hervor, dass am 9.6. ein Gespräch zwischen EKD-Vertreter*innen und Vertreter*innen der „AG Kirche“ beim UBSKM stattgefunden hat, das offenbar einen Umschwung in der Haltung der EKD bewirkt hat: In dem Brief verspricht die EKD nun doch unabhängige Aufarbeitungskommissionen einrichten zu wollen.  Gut, dass es mit dem Unabhängigen Beauftragten etwas staatliche Kontrolle gibt, wie die Kirchen die Aufarbeitung von Missbrauch gestalten.